Hayes wollte schon abschalten. Er konnte sich zur Zeit nur mit einem Problem befassen und dieses Problem hieß Zoe. Aber Dieter war ein Freund und Hayes ließ ihn ausreden.
»Deine Telemetrie zum Beispiel. In deiner linken Beinanlage läuft ein Motor heiß. Hast du dir die Diagnosedaten mal angesehen? Es ist noch nicht kritisch, aber ein gutes Zeichen ist das nicht. Dir bleibt nur eins, Tam, kehrtmachen und es so weit schaffen, dass wir einen der Reserveroboter schicken können, um dich, wenn nötig, abzuschleppen. Für Zoe können wir vielleicht etwas vom Orbit aus machen. Die IOS hat ein paar Telesensorien, die sie punktgenau absetzen kann.«
Hayes nahm sich Zeit, um die Informationen zu verdauen. Ein Servo im rechten Bein lief heiß… was das zusätzliche Gewicht erklären würde, das er jedes Mal spürte, wenn er diesen Fuß bewegte, und die Tendenz nach Backbord, wenn seine Aufmerksamkeit nachließ. Aber das ging ja noch angesichts von Dieters Schwarzmalerei, dass er nie und nimmer den Fluss erreichen würde. Und was Zoes Rettung betraf…
Er sagte: »Vom Orbit aus?«
»Weil nämlich Yambuku bereits evakuiert wird. Die Dichtungen versagen schneller, als wir sie ersetzen können, und die Restbestände schmelzen dahin. Außerdem sagt Theophilus, die IOS zeige sich ihm gegenüber reserviert; vielleicht ist da oben auch was schief gelaufen. Der letzte Shuttle startet in achtundvierzig Stunden.«
»Zu früh.«
»Das ist der Punkt. Ich will versuchen, Theophilus zu überreden. Aber er hat das Sagen, und er ist so sauer auf dich, dass ich mich nicht wundern würde, wenn er dich abschreibt.«
»Er will doch Zoe zurückhaben.« Die Leiche zumindest, fügte Hayes in Gedanken hinzu.
»Er will in erster Linie fort von hier. Er ist Aristokrat, und er hat viel Verantwortung. Wenn du mich fragst, bekommt er es allmählich mit der Angst.«
»Danke für die Informationen, Dieter. Halte den Kern steril. Ich komme.«
Ehe Dieter etwas erwidern konnte, unterbrach er die Verbindung.
Achtundvierzig Stunden.
Wenn er jetzt kehrtmachte, konnte er es schaffen.
Einundzwanzig
»Tam? Tam?«
Fort war er. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Die überhitzte Finsternis provozierte Einbildungen.
Der Gräber mit dem agilen, schlangengleichen Körper war auch nicht mehr da. Er hatte die Membran ihres Schutzanzugs aufgeschlitzt, und zwar mit einer einzigen, rasiermesserscharfen Kralle vom Brustbein bis zum Schritt, aber vorsichtig, sie hatte kaum geblutet. Und dann hatte er sie allein gelassen. Dem Tod überlassen, und sie hatte rücksichtslos eine Glühwürmchenlampe nach der anderen gezündet, dabei ihren Körper untersucht und auf das unausweichliche Versagen von Herz, Lunge, Leber, Hirn gewartet — immerhin war sie der isischen Biosphäre ausgeliefert, und die schmutzige Tierkralle hatte ihr zahllose Mikroben unter die Haut gepflanzt. Doch das Blut an Körper und Fingern war in der heißen, stickigen Luft rasch getrocknet. Sie wurde nicht krank und sie starb auch nicht.
Aus lauter Angst, im Dunkeln zu sterben, hatte sie allerdings ihren ganzen Vorrat an Glühwürmchenlampen verbraucht. Beim Licht der letzten Lampe, da hatte sie mit aller Macht sterben wollen. Sie war ohnmächtig geworden oder eingeschlafen, aber gestorben war sie nicht.
Und jetzt lag sie wieder da, entsetzlich wach und eingesperrt in diesem lichtlosen Loch.
Sie riss sich den Luftfilter vom Gesicht. Gab es einen triftigen Grund, die isische Luft nicht so einzuatmen, wie sie war? Vielleicht ließ sich so der unausweichliche Tod beschleunigen.
Sie starb auch jetzt nicht.
Und wieder stellte sich das triebhafte Verlangen zu fliehen ein, züngelnde Flämmchen einer schwelenden Panik. Mit der Dunkelheit fand sie sich ab; es gab noch andere Sinne, um sich zu orientieren. Und wieder einmal kroch sie aus ihrem blinden Stollen in den Tunnel hinaus. Diesmal nahm sie den fremden Moosteppich direkt mit Bauch und Brüsten wahr, ohne Vermittlung durch eine Hightech-Membran.
Sie kroch wer weiß wie lange, bog mehrmals ab, wollte das Labyrinth, das sie durchkreuzte, in Gedanken auf Pergamentpapier festhalten, doch, was aussehen sollte wie eine Seefahrerkarte aus uralten Zeiten, löste sich in Hitze und Irrtümern auf; sie konnte es nicht festhalten.
Sie bog um eine Ecke, streckte die Hand aus und berührte einen Gräber. Sie erstarrte, doch das Tier schien zu schlafen. Die fettigen, gewölbten Schuppen, dieser nützliche Schild gegen die Außenwelt, sie waren abgespreizt, um Wärme freizugeben anstatt zu horten. Ohne Verfremdung durch den Luftfilter roch der Gräber stechend und streng. Der Geruch erinnerte an ein frisch gedüngtes Feld.
Zoe wich zurück. Zum Kehrtmachen war kein Platz. Sie rechnete jeden Moment mit einer unliebsamen Begegnung zwischen ihren Füßen und wer weiß was, hatte Angst, es könne sich herausstellen, dass ihre Welt auf ein paar Meter ausgebuddelten Untergrunds reduziert worden war, derweil ihr Körper sich stur und dämlich zu sterben weigerte.
Die Filtermaske hatte sie weggeworfen, aber das übrige Kopfgeschirr nicht — zum Glück, denn eben meldete sich Tam Hayes. Vermutlich eine Halluzination, ein Fieberwahn. Und wenn. Sie trank seine Stimme wie eine Verdurstende.
Eine Zeit lang hatte sie unter den Sternen von Teheran Wäsche transportiert.
Mit dem Job hatte man sie für irgendeine Übertretung bestraft. Sie sammelte die stinkenden, zu oft recycelten Kittelchen der jüngsten Insassen ein und trug sie in einem Plastikkorb über den leeren Hof zum Wäscheschuppen — und das im Winter und nicht selten nachts.
Ihre geheime Rache bestand darin, die Strafe gar nicht mal so schlimm zu finden. So unangenehm der Job war, denn kleinere Kinder machten sich schmutzig und waren öfters mal krank, so sehr genoss sie die Minuten im Freien. Selbst bei Kälte, selbst bei Dunkelheit. Vielleicht gerade dann. Die kalte Nachtluft schien irgendwie sauberer zu sein als die Luft tagsüber, als habe ein gütiger Wind sie von einem fernen Gletscher eigens herbeigeweht. Und die kältesten Nächte waren meist auch die klarsten. Über den bleichen Lampen des Lagers standen die Sterne und blickten mit ihrer lauteren reglosen Gleichgültigkeit zur Erde. Ihr Glanz war im Feuer geboren und älter als die Meere. Wo sie war, war sie aus Versehen; sie war für die Sterne geschaffen, und sie sehnte sich danach, sie auf ihren Bahnen zu begleiten, sie, die so unnahbar waren wie die Könige des Altertums.
In manchen Nächten setzte sie ihre übelriechende Last einfach ab und gönnte sich einen Augenblick, um zitternd vor Kälte in den Himmel zu starren.
Eben jetzt war sie dort. Im Lager. Oder zwischen den Sternen. Wo denn nun? Sie hatte Hunger, sie war durcheinander.
Aber, dachte sie widerstrebend, was wenn sie zu den Sternen reiste und dort nichts weiter fand als noch mehr Morast und noch mehr stickige Hitze und klirrende Kälte und Krankheit und Fremdlinge, denen egal war, ob sie starb oder am Leben blieb? Was, wenn sie den ganzen beschwerlichen Weg zu den Sternen zurücklegte, nur um in einem Loch irgendwo in der Fremde verscharrt zu werden?
Was, wenn? Was, wenn? Was, wenn?
In manchen Nächten bildete sie sich ein, die Sterne reden zu hören. Sie bildete sich ein, sie würde, wenn sie nur angestrengt genug lauschte, ihre Stimmen hören können, Stimmen, die in einer Sprache redeten, die den Edelsteinen an Klarheit, Härte und Farbenpracht in nichts nachstand.
Sie harrte geduldig aus, um diese zeitlose Sprache zu hören und endlich auch zu verstehen.
»Zoe!«
Wieder die Stimme. Tam Hayes. Nicht die Stimme der Sterne. War er nicht von den Sternen? Oder wenigstens vom Kuiper-Gürtel, wo die Leute freimütiger redeten als es auf der Erde üblich war.