Im Schein einer Taschenlampe zog er die drei Koaxialkabel der letzten Energiequelle. Tief im unterkühlten Kern der Nachrichtenzentrale begannen die Wellenfunktionen der Photonen, die seit Jahren mit ihren terrestrischen Zwillingen in Resonanz gestanden hatten, zu kollabieren; Information zerstob in einem jähen entropischen Kollaps, und die IOS war endgültig abgenabelt.
Die Isis-Orbitalstation erweckte den Anschein von Normalität. Aus den lunaren Turing-Fabriken trafen mit pünktlicher Regelmäßigkeit Ersatzteillieferungen ein, machten an den wenigen Docks fest, die noch in Betrieb waren, und übergaben ihre Fracht an die wartenden Roboter. Die Lager der Station füllten sich mit Fertigwaren und Rohmaterialien, für die es keine Verwendung mehr gab.
Von den nahezu tausend Crewmitgliedern, die bislang der Quarantäne entkommen waren, konnte das einzige Rettungsmodul maximal fünfzehn aufnehmen! Eine kleine, von Turing-Robotern in einen kometenartigen Körper verpflanzte Higgs-Kugel, die in einem isischen Lagrange-Punkt parkte. Fünfzehn entsprach rein zufällig der Anzahl der Abteilungsleiter plus ihrem Generaldirektor, Kenyon Degrandpre. Zwei der ursprünglichen Abteilungsleiter, einschließlich Corbus Nefford, waren der Krankheit oder der allgemeinen Quarantäne zum Opfer gefallen. Für ihre Nachfolger war gesorgt.
Degrandpre wusste um die Möglichkeit eines Aufruhrs an Bord der IOS und ertappte seine Hand immer häufiger in der unmittelbaren Nähe der geflochtenen Reitpeitsche. Doch die allermeisten waren Terrestrier und diszipliniert genug, um auch weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen, Katastrophe hin, Katastrophe her. Degrandpre hatte sie ermutigt, an die Möglichkeit einer Bergung zu glauben, und man schien dankbar für die Lüge.
Nachdem er die Vorbereitung des Higgs-Transfers einmal veranlasst hatte, wurde die Station von einer lähmenden Stille erfasst. Die letzte Nacht verbrachte Degrandpre in seiner Kabine; dank des außen vor postierten Wachkommandos konnte er seit zweiundsiebzig Stunden zum ersten Mal wieder durchschlafen. Er träumte von einem stählernen Labyrinth mit schrumpfenden Korridoren und dann von den Gewächshäusern seines Vaters, taufeucht und warm an den winterlichen Nachmittagen.
Seltsam, dachte er, als er durch das Fiepen seines Palmtops geweckt wurde, seltsam, wie die Psyche Ruhe aus der Katastrophe gewinnt. Traumhaft diese Nautiluskammern der Normalität, obwohl die IOS faktisch ein gelähmtes und dem Untergang geweihtes Habitat war. Die Krise war zwar akut, aber irgendwie auch träge, vergleichbar einem Segelschiff, das unter Deck beschädigt ist und sich anfangs mit der allersanftesten Schlagseite begnügt.
Der Palmtop fiepte erneut, eine hereinkommende Nachricht von hoher Priorität. Er sinnierte. Was gab es Dringendes, wenn sowieso alles den Bach runter ging? Ihn erwartete bestenfalls ein Exil im Kuiper-Gürtel. Zur Erde konnte er nie mehr zurück, die Familien würden ihn aufknüpfen; und der Mars hatte zu viele Gefängnisse und Auslieferungsabkommen. Er war kein Verbrecher, nicht in seinen Augen, wohl aber in den Augen der Familien.
Er langte nach dem Palmtop, die Finger urplötzlich taub vor Angst.
»Sir.« Es war Leander für Medizin. »Wir haben einen Stapel von Anrufen aus Yambuku, man verlangt umgehende Evakuierung. Avrion Theophilus möchte Sie unter vier Augen sprechen.«
Das Letzte, was Kenyon Degrandpre jetzt brauchen konnte, war irgendein Aristokrat, der ihm gegenüber den Vorgesetzten markierte. Gott, doch jetzt nicht. »Sagen Sie Theophilus, ich kann seinem Wunsch nicht nachkommen. Aber machen Sie Yambuku klar zur Evakuierung.«
»Und wo sollen…?«
»Im letzten Turing-Dock. Und verhängen Sie Quarantäne. Am besten, Sie lassen die Leute im Shuttle.«
»Sie meinen — auf unbestimmte Zeit?«
Ja, auf unbestimmte Zeit; genauer, bis das Rettungsmodul gestartet war — musste man denn alles aussprechen? »Sonst noch was?«
»Ja.« Leanders Stimme klang flach. »Kapsel Delta berichtet erste Symptome.« Diese Kapsel war praktisch ein Schlafsaal im Anschluss an die Kapsel für Maschinen- und Gerätebau. »Natürlich haben wir die Schotts gleich dichtgemacht, aber…«
Der Mann auf dem Bildschirm zuckte die Achseln.
Degrandpre verstand.
Eine Garantie gab es nicht.
Dreiundzwanzig
Der äußere Ring war verseucht, das meldeten die Nanosensoren in den betroffenen Wänden. Der erste Schutzwall war gefallen. Bis zum totalen Zusammenbruch, so Franklins Überzeugung, konnte es nicht mehr weit sein.
Avrion Theophilus ging mit dem Planetologen in die Shuttle-Kontrollkabine über dem Kern von Yambuku — in den ›Adlerhorst‹, wie Franklin die Kammer nannte — um die Lage zu besprechen.
Dieter Franklin hatte den leicht irren Blick eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist und sich damit abgefunden hat. Er redete zu unbefangen. Doch Theophilus hörte ihm zu.
»Es hat immer mal wieder Dichtungsprobleme gegeben, bei allen Bodenstationen, vom ersten Tag an. Aber nicht so wie jetzt. Was wir hier erleben, ist ein massiver, konzentrierter Angriff.« Der Planetologe runzelte die Stirn. »In meinen Augen ist Isis eine Bestie. Sie will rein. Sie will uns. Sie hat alle chemischen Verbindungen durchprobiert, alle Schlüssel, um den einen zu finden, der ins Schloss passt. Ein langwieriges und frustrierendes Unterfangen, das uns in Sicherheit wiegte. Aber jetzt hat sie ihn. Die Bestie hat den Schlüssel, und sie braucht ihn nur noch zu benutzen und geduldig eine Tür nach der anderen aufzuschließen. Weil es nämlich zu spät ist, die Schlösser auszuwechseln. Kurz und gut: Wir haben verloren.«
»Sie finden also auch, dass wir räumen sollten.«
»Wenn wir weiter atmen wollen, bleibt uns keine Wahl.« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee — ein mehr als schmeichelhafter Name für dieses bittere Gebräu. »Andererseits, wir haben zwei Leute draußen.«
»Hayes.«
»Tam Hayes und Zoe Fisher. Sie scheint noch zu leben.«
»Eingeschlossen unter diesen Erdhügeln.«
»Zugegeben.«
»Wenn ich Ihrer Logik folge, dann können wir nichts mehr für sie tun, ohne die ganze Belegschaft zu gefährden.«
»Wir sind längst so gefährdet, wie Menschen gefährdeter nicht sein können. Das ist nicht der Punkt, Sir.«
»Ich habe bereits die Evakuierung verlangt und angeboten, die Lage der beiden vom Orbit aus zu überwachen. Nennen Sie mir eine Alternative.«
»Wir müssen so viele Leute wie möglich aus dem Gefahrenbereich bringen. Also evakuieren wir die Station, lassen sie aber in Betrieb. Nano-Instrumente und Roboter können den Kern noch tagelang kontrollieren. Von der IOS aus können wir mit Hayes in Verbindung bleiben und sollten die beiden es wirklich zurück nach Yambuku schaffen, können wir immer noch den Shuttle schicken. Es würde an ein Wunder grenzen, sicher. Aber daran glauben, kostet ja nicht viel.«
Theophilus zeigte die hohlen Hände. »Für Sie ist Isis weiblich. ›Sie‹ will hinein, haben Sie gesagt. Haben Sie eine Ahnung, warum sie hinein will?«
Der groß gewachsene Planetologe zuckte die Achseln. »Vielleicht ist sie neugierig. Oder hat Hunger.«
Der Palmtop des Aristokraten schlug an; Theophilus vergewisserte sich. Ein Ruf aus der Nachrichtenzentrale. Er war schon fast aus der Tür.
»Sir?«, sagte Dieter Franklin.
Theophilus blickte über die Schulter. »Ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken, Mr. Franklin. Die Sache ist erst mal erledigt.«
Vierundzwanzig