Tim Hayes hatte die Lichtung rings um die Kolonie erreicht. Er zog den linken Fuß nach, und die Servos malträtierten ihn mit grellgelben Überhitzungsmeldungen, die wie träges Feuerwerk in sein Hornhautdisplay platzten.
Aus dem diesigen Osten kam wässriges Sonnenlicht. Der Wald dampfte wie aus den Nüstern eines träumenden Drachen. Von den Gipfeln der Copper Mountains wanden sich die Nebelschwaden wie Geisterflüsse zu Tal.
Es war nicht leicht, den schweren Biopanzer so behutsam zu bewegen. Mindestens fünf Gräber sahen Hayes die Lichtung betreten (andere mochten ihn aus dem Schutz des Waldrands beobachten oder von irgendwo abseits der Erdhügel). Außen an seiner Montur trug Hayes eine Elektropeitsche und eine Pistole mit Hartgummigeschossen. Doch die Gräber wahrten Abstand. Sie schienen weder aufgeschreckt noch feindselig — nur wachsam. Vorausgesetzt, er deutete ihre Zurückhaltung richtig. Ihre Köpfe drehten sich wie Radarantennen. Wenn sie aufrecht standen, erinnerten sie Hayes an Photographien, die er gesehen hatte: Präriehunde, die sich sonnten. Die ausdruckslosen Augen glänzten im Sonnenschein.
Er hatte die Verbindung mit Zoe offen gehalten. Sie meldete sich nur selten, ignorierte ihn meistens, aber sie atmete — ein schwaches Geräusch, das ihn beinah glücklich machte.
Der Boden war noch aufgeweicht vom Regen. Viele Gräberspuren führten in und aus den niedrigen Hügelöffnungen. Er musste lange suchen, bevor ihm eine Spur ins Auge sprang; falls man Zoe an den Handgelenken in diese Öffnung gezerrt hatte, konnte die Doppelfurche im trocknenden Morast von ihren Absätzen stammen.
Irgendwo da unten — die inwendige Schräge hinunter in dieses Labyrinth aus uralten Aushöhlungen —, irgendwo da unten steckte Zoe.
Er verfügte über Waffen und eine starke Helmlampe. Er wäre ihr liebend gerne gefolgt.
Nur, dass der sperrige Biopanzer so gar nicht durch diese Enge passte…
Er rief Yambuku und wollte Avrion Theophilus sprechen.
Dieter Franklin meldete sich und gab Hayes einen knappen Überblick: Hülle porös, steriler Kern bedroht, Evakuierung eher heute als morgen — »wenn diese Arschlöcher auf der IOS uns nur eine Minute zuhören würden.« Bis Hayes und Zoe zurück sein könnten, sei die Bodenstation vermutlich geräumt. »Aber wir lassen das Licht brennen. So lange der Kern steril ist — und das dürfte noch ein paar Tage so sein — könnt ihr die IOS anrufen und euch ein Taxi bestellen. Verstanden, Tam?«
»Stell eine Kerze ins Fenster, Dieter.«
»Wird gemacht.«
»Jetzt gib mir Theophilus.«
»Ja, Theophilus online, was gibt’s?«
»Ich hätte da eine Frage, Theo«, sagte Hayes.
Er stellte sich vor, wie Theophilus zusammenzuckte. Zoe nannte ihn Theo, aber Zoe war privilegiert, war sein Mündel. Eigentlich hätte Hayes ihn mit ›Master Theophilus‹ anreden müssen. Theo war einer von den guten Aristokraten.
»Ich höre.«
»Zoe hat sich ab und zu gemeldet. Ich glaube nicht, dass man in Yambuku auch nur ein Wort davon gehört hat. Ihre Reichweite ist begrenzt.«
»Korrekt.«
»Sie kann von Glück sagen, dass sie über dieses aufgepfropfte Immunsystem verfügt. Sonst wäre sie längst nicht mehr am Leben, Theo.«
»Ja, sie kann sich glücklich schätzen. Stellen Sie Ihre Frage, Mr. Hayes.«
»Sie ist einfach nur neugierig, Theo… wo Sie doch so etwas wie ein Vater für die Fünflinge waren. Als sie in diese Waisenkrippe kam, hatte sie da schon dieses künstliche Immunsystem?«
Es entstand eine Pause. Vermutlich das Schweigen von Theos Gewissen. »Ja, so war es, in der Tat. Das wird ihr geholfen haben, zu überleben.«
»Aber nicht ihren Klongeschwistern.«
»Ihre Geschwister waren lediglich anders ausgestattet.«
»Ein Experiment also. Man nehme fünf Ratten, sperre sie in einen Käfig und infiziere sie mit Pocken — etwas in der Art?«
»In Anbetracht Ihrer Situation, Mr. Hayes, will ich über Ihren anmaßenden Ton hinwegsehen. Ich hätte den Mädchen wirklich etwas Besseres als diese Teheraner Einrichtung gewünscht. Politische Umstände haben uns die Hände gebunden. Allerdings, ja doch, ihre Unterbringung dort diente letztlich der Wissenschaft.«
»Sie glaubt, Sie hätten sie gerettet. Da hätten Sie sie auch gleich vergewaltigen können.«
»Wir reden hier über eine Familienangelegenheit. Als Sie Ihre Heimat verlassen haben, Mr. Hayes, hätten Sie auch Ihre Art moralischer Selbstgefälligkeit zu Hause lassen sollen. Die familiäre Wertordnung ist unanfechtbar.«
»Geben Sie Dieter das Mikro, Theo«, sagte Hayes nachdrücklich.
Jetzt erschienen immer mehr Gräber auf der Bildfläche, aber alle machten einen großen Bogen um ihn. Er wollte sie auf keinen Fall reizen. Sie hätten sich an Zoe rächen können — falls sie zu solchen Gedanken fähig waren.
Dieter Franklin meldete sich verspätet zurück. »Du machst dir das Leben nur noch schwerer, Tam.«
»Schwerer geht nicht. Hört Theo mit?«
»Master Theophilus hat die Nachrichtenzentrale verlassen, wenn du das meinst. Aber dieses Gespräch wird aufgezeichnet.«
»Dieter, ich hätte da eine Frage. Der Biopanzer — der ist doch so etwas wie eine Mini-Bodenstation, richtig? Ich meine, er hat eine Reihe von Peripherien rings um einen sterilen Kern.«
»Könnte man sagen. Dicker Panzer für Elektronik und Servomotoren, darunter Gelpolsterung, zu guter Letzt eine schützende Schicht, ungefähr so dick wie deine Haut.«
»Worauf kann ich zur Not verzichten?«
»Sag das noch mal, Tam.«
»Auf wie viel Panzer kann ich verzichten, ohne mich gleich umzubringen?«
Diesmal entstand eine größere Pause. Hayes besah sich den Eingang in den Erdhügel. Dunkel wie ein Dachsloch. Eng wie ein Abwasserkanal.
»Prinzipiell auf nichts«, sagte Dieter. »Das geht so nicht.«
»Beantworte die Frage.«
»Ich bin kein Ingenieur. Wenn du willst, ziehe ich Kwame hinzu.«
»Kwame weiß nicht mehr als du. Du kannst die Montur herunterbeten.«
»Ich übernehme keine Verantwortung…«
»Verlangt auch keiner. Die Verantwortung liegt voll und ganz bei mir. Beantworte die Frage.«
»Naja… wenn du den schweren Panzer wegnimmst, wirst du wahrscheinlich nicht gleich sterben. Den Helm brauchst du wegen der Luftreiniger. Und dann stehst du da in einer Plastikhülle, nicht dicker als Aluminiumfolie. Ja, sie hält dir die heimischen Mikroorganismen vom Leib, aber höchstens für zwei Stunden. Schürf dir vorher den Ellbogen auf und es geht verdammt schnell. Tam, das ist eine total verrückte Idee.«
»Ich muss sie da rausholen.«
»Ihr geht beide drauf dabei.«
»Wenn’s sein muss«, sagte Hayes. Seine Hände nestelten schon an den Verschlüssen der Stiefel.
Dieter Franklin holte Avrion Theophilus im Korridor ein. »Master Theophilus, ich möchte mich für Tam Hayes entschuldigen.«
»Nicht Sie haben sich zu entschuldigen, Mr. Franklin.«
»Sir, ich bin fest überzeugt, es durchkreuzt nicht unsere Pläne. Ich meine, sollte er es irgendwie nach Yambuku schaffen, dann werden wir ihm doch einen Shuttle schicken… nicht wahr?«
»Familiensache«, sagte Theophilus forsch. »Machen Sie sich keine Sorge.«
Fünfundzwanzig
Außer Zoe war keine Menschenseele im Hofraum des Waisenheims, Zoe lauschte den Wintersternen.
Sie lauschte mit geschlossenen Augen, weil es zum Sehen zu finster war. Sie lauschte mit hängenden Armen, weil die Arme zu schwer waren, um sie zu bewegen. Sie atmete durch den Mund, weil die Luft zum Schneiden dick war und nach fremden Tieren stank.