Vielleicht war sie ja gar nicht im Hofraum… aber da waren die Sterne, Stimmen wie von einem weit entfernten Kirchenchor in einer kalten Nacht, Stimmen wie das Pfeifen eines Zuges, das aus der Prärie herüberwehte. Stimmen wie Schneeflocken, die am Schlafzimmerfenster wisperten. Stimmen wie das gelbe Licht, das aus den Wohnungen der Fremden fiel.
Es tat gut, nicht allein zu sein. Zoe zitterte vor Fieber (seit wann hatte sie Fieber?) und versuchte sich auf den Klang der Sterne zu konzentrieren. Sie wusste, dass sie einem ausgedehnten und unsäglich alten Gespräch lauschte; nicht, dass sie wirklich etwas verstanden hätte, aber alles strotzte vor Bedeutung, eine fremde Sprache, so komplex und so wunderschön, dass sie Sinn absonderte wie eine Blüte den Nektar.
Es gab noch eine Stimme, die näher, aufdringlicher war, denn sie wandte sich direkt an Zoe, eine erinnerte Stimme, die Zoe berührte und bewunderte, wie Zoe die Sterne bewunderte.
»Tam?«
»Ich komme«, sagte er. Er sagte es mehr als einmal.
Und er sagte noch etwas. Über ihre Ausrüstung. Ihr Werkzeug.
Es fiel ihr schwer, den Worten zu folgen. Sie wollte lieber den Sternen lauschen.
Einmal sagte sie irrtümlich: »Theo?« Denn sie war wieder im Waisenheim, ein Traum.
»Nein«, sagte Hayes. »Nicht Theo.«
Die nahe Stimme klang herzlich und einladend, und sie gehörte Dieter Franklin, dem erinnerten Dieter Franklin.
Da stand der schlaksige Planetologe vor ihr, inwendig erleuchtet, Rippen und Ellbogen deutlich zu erkennen unter der groben, blauen Dienstmontur von Yambuku. »Das ist die Antwort«, erklärte er leidenschaftlich, »die Antwort auf all die alten Fragen. Wir sind nicht allein im Universum, Zoe. Aber wir sind nahezu einzigartig. Das Leben ist fast so alt wie das Universum. Nanozelliges Leben, denk an die uralten marsianischen Fossilien. Es hat sich über die Milchstraße verbreitet, lange bevor es die Erde gab. Es reist mit dem Staub explodierter Sterne.«
Das war nicht Dieter, der da redete, das war jemand anderes, der sich ihrer Erinnerung an Dieter bediente. Der Gedanke hatte etwas Erschreckendes, ja, aber Zoe hatte keine Angst. Sie hörte gut zu.
»Ich würde dir das noch ausführlicher erklären, mein Kind, aber dir fehlen die Worte. Sagen wir es mal so. Du bist eine lebendige, mit Bewusstsein begabte Entität. Und das sind wir alle. Aber jeder auf seine Weise. Leben gedeiht überall in der Milchstraße, sogar im heißen, brodelnden Zentrum, wo die natürliche Strahlung ein Lebewesen wie dich augenblicklich töten würde. Das Leben ist flexibel und anpassungsfähig. Bewusstsein entsteht… naja, fast überall. Nicht, wie du es kennst. Keine Lebewesen, die dumm geboren werden und für kurze Zeit leben, um dann für immer zu sterben. Das ist die Ausnahme, nicht die Regel.«
»Ich kann hören, wie die Sterne reden«, sagte Zoe.
»Ja, das können wir alle, die ganze Zeit. Es sind hauptsächlich Planeten, keine Sterne. Planeten wie Isis. Oft von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit, aber allesamt voller Leben. Alle sehr gesprächig.«
»Aber nicht die Erde«, erriet Zoe.
»Nein. Die Erde nicht. Keiner weiß, warum. Der Lebenskeim, den eure Sonne eingefangen hat, muss irgendwie schadhaft gewesen sein. Ihr seid… ins Kraut geschossen? Ins Kraut geschossen und allein.«
»Verwahrlost.«
Dieter lächelte traurig. »Ja. Verwahrlost.«
Doch es war nicht Dieter, der da lächelte. Nicht Dieter, der da redete.
Es war Isis.
»Zoe, der Peilsender.«
Das war Tams Stimme, seine Funkstimme.
Sie schlug unwillkürlich die Augen auf, sah aber nichts. Über Stirn und Wangen lief der Schweiß in juckenden Rinnsalen. Der Mund war staubtrocken, die Zunge dick und schwerfällig.
»Zoe, hörst du mich?«
Sie bestätigte mit einem Krächzen. Sie hatte Bauchschmerzen. Die Füße waren taub. Ihr war noch nie so kalt gewesen, ihr war kälter als in den kältesten Winternächten in Teheran, kälter als im Zentrum eines Kuiper-Körpers, der durchs All wirbelte. Der Schweiß war kalt, und das Salz biss in den Augen. Sie schmeckte es auf den gesprungenen Lippen.
»Zoe, du musst mir jetzt zuhören. Hör mir genau zu!«
Sie nickte, weil sie einen Moment lang dachte, sie sei blind und er sei bei ihr. Dabei war das nur seine Funkstimme.
»Zoe, am Werkzeuggürtel müsstest du einen Peilsender haben. Den Hochfrequenzsender, erinnerst du dich? Am Werkzeuggürtel. Ungefähr so groß wie ein Palmtop. Kannst du ihn einschalten?«
Peilsender? Warum nur? Er wusste doch, dass sie hier war. Sie konnten sich sogar hören.
»Ich kann dich so nicht finden. Schalte den Peilsender ein.«
Ihr Signal, das von den stationären Satelliten abprallte und mit seinem Helm kommunizierte. Ja, das konnte funktionieren. Zusammenzuckend langte sie um den zerschundenen Anzug herum und befingerte den Gürtel. Die Finger waren so ungefügig wie Heliumballons und tasteten lauter Schleim, der vermutlich von diesem Moosbelag rührte. Bei all der vergeblichen Kriecherei war der Peilsender bestimmt verloren gegangen, aber nein, da war er, ein flaches Kästchen, ganz glitschig, als sie es aus dem Halfter zog.
»Ich hab ihn«, brachte sie heraus. Barbarisch, diese menschliche Stimme.
»Kannst du ihn einschalten?«
Sie drehte und wendete das Gerät, bis sie die kleine Mulde fand. Sie legte wiederholt den Daumen hinein und wurde durch ein kurzes Zirpen und das Aufleuchten einer winzigen roten Kontrolllampe belohnt. Der Sender arbeitete.
So winzig die Lichtquelle war, sie gab Zoe das Augenlicht zurück. Zoe hielt sich das Kontrolllämpchen vors Gesicht und badete in seinem Schein. O du kostbarer Funke! Der Funke beleuchtete, wenn auch nur schwach, alles was nicht weiter als zehn Millimeter von ihm entfernt war.
Sie hielt die Hand dicht daneben.
Was sie sah, war unerfreulich.
»Da!«, sagte Tam. »Da ist er! Laut und deutlich. Halt die Ohren steif, Zoe. Es dauert nicht mehr lange.«
Die Sterne — zumindest aber ihre Planeten — lebten und hatten seit Jahrmilliarden Selbstgespräche geführt (Selbstgesänge, verstand Zoe).
Isis, in der Maske des erinnerten Dieter Franklin, sang ihr ein wohltuendes Lied. Ein Kinderlied. Ein Lied, das ihr die Kindermädchen damals gesungen hatten, einen albernen Reim über die Meeresküste. Hält man sich ein Schneckenhaus ans Ohr, dann hört man das Meer.
Bewusstsein, erklärte ihr Isis, werde in den winzigen Dingen des Universums geboren, obwohl kein winziges Ding mit Bewusstsein begabt sei. Eines Tages, so Isis, sei das Leben auf die Idee gekommen, bei der Zellteilung einen unsichtbaren Kontakt aufrechtzuerhalten, und zwar durch eine Quantenäquivalenz von Elektronpaaren, die in Mikrotubuli geparkt wurden, »wie bei eurer Partikelpaar-Verbindung zur Erde«.
Eine Technik, die vom Leben erfunden wurde, dachte Zoe. Wie so vieles andere auch. Augen zum Beispieclass="underline" Photoneneinschläge in neurochemische Ereignisse von einer Raffinesse zu verwandeln, die Frösche Fliegen fangen und Menschen Rosen bewundern lässt. Wir sehen die Sterne, dachte Zoe. Aber hören können wir sie noch nicht.
Mit Bewusstsein begabte Lebewesen, so Isis, seien sehr selten im Universum. Sie würden wegen ihrer Seltenheit gehegt und gepflegt. Die galaktische Biosphäre sei überglücklich, dass ihre Waisenkinder heimgefunden hätten. Isis bedaure den sinnlosen Tod so vieler — kurzes Aufflackern an dieser Stelle von Macabie Feya, Elam Mather —, doch das sei unabwendbar gewesen, ein unwillkürlicher Reflex der isischen Biosphäre; ein Geschehen so autonom wie Zoes Herzschlag und genauso schwer zu bändigen. Aber Isis tue ihr Bestes.