»Ich bin nicht tot«, bemerkte Zoe.
»Du bist anders, mein Kind.«
So anders, dass ich überlebe?
Eins von meinen Mädchen hat überlebt.
Isis ging nicht weiter darauf ein.
Sechsundzwanzig
Zu spät, dachte Kenyon Degrandpre.
Er schritt hocherhobenen Hauptes den Ringkorridor der todwunden IOS hinunter.
Zu spät.
Seht her, dachte er. Sehe ich nicht fesch und adrett aus in meiner Uniform? Der Ringkorridor war wie ausgestorben — viele von der Belegschaft hatten es vorgezogen, allein in ihrer Kabine zu sterben, und die wenigen, die ihm begegneten, taten es immer noch mit schreckhafter Ehrerbietung. Er hatte die Hand an der geflochtenen Peitsche, für alle Fälle. Doch der weise Manager greift selten zur Prügelstrafe.
Er schritt steif und formell auf das letzte Dock zu, wo das Rettungsboot wartete, um ihn von der IOS zur Higgs-Schleuder zu bringen. Er lauschte seinen Schritten, Rhythmus und Gleichmaß waren ihm wichtig. Kein Schlenker nach links und keiner nach rechts. Er ging in der Mitte des Ringkorridors, die gerippten Wände gleich weit von den gestrafften Schultern entfernt. Nur an den niedrigen Schotts verzichtete er auf Haltung.
Er kam durch einen Sektor mit Mannschaftsquartieren. Jeder an Bord verfügte über ein privates Quartier, spartanische Stahlzellen, kaum größer als die Lesenischen in Bibliotheken. Ein paar Türen standen offen und Degrandpre sah den einen oder anderen auf dem Klappbett liegen, schlaff und mit glibbrigem Blut an Nase und Lippen. Gelegentlich ein Stöhnen, ein Schrei. Die meisten Türen waren geschlossen. Die meisten Menschen zogen es vor, in Abgeschiedenheit zu sterben.
Man dürfe nicht übersehen, hatte Nefford gesagt, dass es so lange dauere. Damit konnte er nur die Inkubationszeit gemeint haben, die für isische Verhältnisse völlig überzogen war. Während die letzte Phase im Zeitraffer verlief: drei bis vier Stunden von den ersten Symptomen bis zum Tod. Nicht mehr.
Den Überlebenden, an denen er vorbeikam, stand die nackte Angst im Gesicht. Sie waren nicht gestorben, aber sie waren dem Tode geweiht; manche glaubten gegen alle Vernunft an eine bevorstehende Bergungsaktion, eine wunderbare Schicksalswende.
Daran glaubte auch Degrandpre. Er war schlichtweg nicht in der Lage, seinen Tod in Betracht zu ziehen. Nicht, nachdem er so weit gegangen war, um ihn zu verhindern: die Mehrfachquarantäne, die ›endgültige Evakuierung‹ der Marburger, die Unterbrechung der Partikelpaar-Verbindung zur Erde. Nein: Er musste einfach überleben, oder alles wäre umsonst gewesen.
Also stimmte er seine Schrittlänge ab und überquerte in demonstrativer Ruhe die dicke Stahlschwelle des Notdocks. Lediglich der Schweiß, der ihm von den Wangen rollte, verriet seine wahre Gefühlslage. Der Schweiß nervte ihn und seine körperliche Schwäche nervte ihn auch. Wenn er nicht krank war, war er dann wahnsinnig? War Krankheit Wahnsinn?
Er traf knapp nach der verabredeten Zeit ein und war enttäuscht, nur drei von seinen Seniormanagern vorzufinden. Im Vorbereitungsraum, einer kleinen Kammer, die direkt mit dem Rettungsboot verbunden war, warteten Leander, Solen und Nakamura. Die anderen, erklärte Leander, seien erkrankt.
Sie aber seien verschont geblieben, gab Degrandpre zum Besten. Das Virus habe sie gemieden; falls nicht, sei der Erreger so weit geschwächt gewesen, dass ihr Abwehrsystem ihn erfolgreich geschlagen hätte.
So weit, so gut, dachte er. Da wären wir.
Er benutzte seinen Seniormanagerschlüssel, um das Boot aufzuschließen und in Betrieb zu setzen. Nichts Dramatisches. Eine schwere Tür glitt auf. Dahinter das beengte Innere des Bootes, im Kreis angeordnete Beschleunigungsliegen, kein Cockpit; das Boot war so etwas wie ein riesiger Roboter, der zu einer einzigen intelligenten Handlung fähig war — nämlich ein Rendezvous mit der Higgs-Schleuder zu bewerkstelligen.
Leander sagte: »Ich komme mir vor wie ein Feigling.«
»Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Wir sind hier überflüssig, das ist alles.«
Nakamura zauderte an der Schwelle. »Manager«, sagte er mit zittriger Stimme. »Mir ist nicht gut.«
»Mir ist auch nicht besonders. Steigen Sie ein oder bleiben Sie draußen.«
Das Rettungsboot legte schlingernd ab und folgte einer weiträumigen Schleife zur Higgs-Schleuder, die im L-5 zwischen Isis und dem Trabanten parkte.
Die Higgs-Kugel lag eingebettet in einem kleinen, eisigen Weltraumkörper, den ein Robotschlepper vor etwa sieben Jahren hier abgesetzt hatte. Überbleibsel der Schleppertriebwerke verzierten jetzt noch die Oberfläche, verrußte Düsen, die an rostende Skulpturen in einem finsteren Steingarten erinnerten. Der völlig automatisierte Higgs-Komplex registrierte die Annäherung des Rettungsbootes, berechnete das Rendezvousmanöver und steuerte es.
Das Boot dockte an. Im Innern des Weltraumkörpers flackerte in Erwartung der Menschen die Beleuchtung auf. Die Temperatur in den engen Korridoren kletterte auf einundzwanzig Grad Celsius. An den Dockluken stellten sich Sanitätsroboter auf…
Der Higgs-Komplex stellte dem Boot immer die gleichen Fragen, bekam aber keine klare Antwort.
Nach einer Weile — als sei er enttäuscht, weil ein angekündigter Gast nicht erschienen war — löschte der Higgs-Komplex das Licht. Habitate kühlten auf Umgebungstemperatur ab. Flüssigwasser kehrte in Eisdepots zurück.
Unterkühlte Prozessoren registrierten mit grenzenloser Geduld die verstreichende Zeit. Isis kroch unbeirrt um ihre Sonne, und keines Menschen Stimme war zu hören.
Siebenundzwanzig
Die Helmlampe hatte eine Betriebsdauer von gut anderthalb Tagen. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie noch brannte, wenn er bereits tot war, wenn seine Leiche bereits auskühlte — oder aufgeheizt wurde von einer hungrigen Meute isischer Mikroorganismen.
Bis jetzt war er noch intakt.
Tam Hayes robbte durch die engen Gräbertunnels. Die radikal verschlankte Schutzmontur war so empfindlich und der Helm so sperrig, dass er nur langsam vorankam. Vor einem Angriff der Gräber hatte er sich am meisten gefürchtet — er war schrecklich verwundbar —, doch draußen hatten die Tiere Abstand gehalten und innerhalb des Hügelkomplexes hielten sie sich bedeckt. Viel sprach dafür, dass sie vor kurzem noch hier gewesen waren. Er kam an Kammern und blinden Stollen vorbei, die mit Nahrungsmitteln gefüllt waren, nach Kategorien geordnet — hier ein Vorrat an Saatgut, dort ein gärender Obsthaufen.
In abzweigenden Tunnels, knapp außerhalb der Reichweite seiner Lampe, gewahrte er Bewegung, ein Sich-Winden, das Kopulieren, Gebären, Kindererziehung oder Volkstanz sein mochte. Er folgte dem Peilsignal und hielt den Sprechfunk offen, hörte wie Zoes Monologe von Mal zu Mal unzusammenhängender wurden.
Der Yambuku-Shuttle musste inzwischen zur hartnäckig schweigenden IOS gestartet sein. Tam Hayes und Zoe Fisher waren die letzten Menschen auf dem Kontinent. Über der Kolonie, der weiten Steppe im Westen, dem gemäßigten Waldland und den Gipfeln der Copper Mountains brach die Nacht herein.
Trotz Fieber und obwohl sie immer wieder die Besinnung verlor, konnte Zoe die Stimme von Isis jetzt deutlicher hören.
Oder besser verstehen. Sie wusste jetzt (und versuchte es in ihren lichten Momenten Hayes zu erklären), wie sich das Bewusstsein von Isis der isischen Biosphäre bediente; wie jede lebende Zelle, von den allerältesten thermophilen Bakterien bis zu den spezialisierten Zellen eines schwarzen Gräberauges, die Entität Isis bewirtete. Zellen lebten und starben, entwickelten sich, bildeten Gemeinschaften, wurden zu Fischen, Vögeln und Landtieren; und keine von diesen Kreaturen kannte Isis oder wurde von Isis gesteuert. Isis bediente sich ihrer Mechanismen auf die Weise, wie sich der Wortlaut eines Buches der Druckerschwärze und des Papiers bedient.