Und schlecht gefahren war er nicht damit. Doch zu viel Zeit war zu langsam verstrichen, die Trennung von der Erde machte ihm mehr zu schaffen als er gedacht hatte. Es war, als registrierten seine Körperzellen jeden Zoll der unsäglichen Entfernung, die die Higgs-Schleuder überbrückt hatte. Er war immerhin so weit von zu Hause entfernt, dass das Sonnenlicht, das auf diese Reben fiel, Beijing, Boston oder Südfrankreich zu seinen Lebzeiten nicht mehr erreichen würde. Seine einzige richtige Verbindung mit dem Planeten seiner Geburt war die Partikelpaar-Verbindung — ein Strohhalm.
Nach dem er greifen musste. Sein Wochenbericht war Pflicht. Er musste das Kartell davon in Kenntnis setzen, dass einer seiner Ingenieure ums Leben gekommen war.
Pech. Oder schlechtes Management. Oder kuipersche Verwegenheit, die gelegentlich ihren Tribut forderte. Genau, das war es.
Gegen Mittag hatte er den Bericht zur Übertragung eingefädelt und wandte sich anderen Aufgaben zu. Eine Delegation von Abteilungsleitern erschien, um Beschwerde zu führen: unfaire Zuteilung von Robotern und Ressourcen, die üblichen Eifersüchteleien. Die Turing-Fabriken auf dem kleinen isischen Mond hatten ihre Produktionsziele nicht erreicht, obwohl sie um zwei Anlagen erweitert worden waren. Es war eine Frage des Ausgleichs. Niemand bekam, was er wollte, aber das war unvermeidlich. Die IOS verwaltete den Mangel.
Die gute Nachricht war, dass es keinen Mangel an wirklich kritischen Dingen gab. Die Turing-Produktivität war gestiegen, auch wenn sie hinter den Erwartungen zurückblieb, und die Lebenserhaltungssysteme der IOS blieben in gutem Zustand. Die schlechten Nachrichten kamen hauptsächlich vom Bodenprojektmanager, der eine Flut von Dichtungspannen meldete, von Reparaturen und geschrumpften Redundanzen, insbesondere aus den kontinentalen und den Tiefsee-Außenposten. (Die kleine arktische Station berichtete nur von routinemäßigen Wartungsarbeiten.) Das konnte unangenehm werden, denn die Bodenstationen benutzten ein erschreckend großes Sortiment an exotischen Materialien, die von zu Hause importiert wurden; die Bestände wieder aufzufüllen würde vom Kartell einige Ausflüchte verlangen, ein Mehr an Fracht war nicht leicht zu begründen. Doch es hätte schlimmer kommen können.
Er beschwichtigte die Juniormanager mit Versprechungen, entließ sie schließlich und suchte seine Kabine auf.
Allein.
Er hasste die soziale Isolierung auf der IOS, doch die Lösung dieses Problems hieß wie immer: Disziplin. Das war der Fehler, den das Kartell vor mehr als einem Jahrhundert gemacht hatte, nämlich mit den Genen von Freiwilligen aus dem Kuiper-Gürtel herumzupfuschen, anstatt die Leute in der Kunst der Selbstdisziplin zu unterweisen.
Die Kabinenwand zeigte den Planeten Isis, blau auf schwarzem Samt. Wie satt er das Bild hatte. Er stellte das Display auf eine neutrale, weiße Lumineszenz, die automatisch eindunkeln würde, sobald er eingeschlafen war.
Der Palmtop zirpte und Degrandpre wachte auf. Es war früher Morgen.
Die eingegangene Nachricht war bernsteinfarben markiert, wichtig aber nicht dringend. Er ließ sie warten, duschte und zog sich an. Dann schickte er den kleinen Personalroboter zur Kombüse und ließ sich wie immer das Frühstück holen.
Er ließ den Bildschirm scrollen, las das Material nur ungern. Es war die Antwort auf seinen Bericht. Flüchtiges Bedauern, was den Tod von Macabie Feya anging. Transferplanänderungen. Revidierte Frachtlisten für die nächsten sechs Monate.
Und am Ende ein kleiner aber tödlicher Stich.
Mit der nächsten Personalrotation kam ein ›Beobachter‹ an Bord. Ein Beobachter von Devices & Personnel, ein Mann namens Avrion Theophilus.
Das Beängstigende war, dass der Mann keinen Rang zu haben schien.
Auf der Erde war ein Mann ohne Titel entweder arm oder sehr einflussreich. Ein Bauer oder ein Adliger.
Und Bauern kamen nicht nach Isis.
Vier
Zoe kam in den Gemeinschaftsraum, um an der Verbrennung von Macabie Feyas Leichnam teilzunehmen.
Tam Hayes hatte die Belegschaft hierher beordert. Der Raum war so groß, dass Zoe sich der Versammlung ohne allzu große klaustrophobische Regungen anschließen konnte. Hayes hatte eine Wand freigemacht und die Vertäfelung in einen Bildschirm verwandelt, der die westliche Rodung zeigte, wo ferngesteuerte Roboter aus hiesigem Holz eine Totenbahre gezimmert hatten. Es war, als blicke man durch ein großes Aussichtsfenster. In Wahrheit lag der Gemeinschaftsraum mitten im sterilen Kern von Yambuku, von Isis durch Zwiebelschalen aus Hochrisikolaboratorien und Roboterhangars isoliert.
Mac Feya, hoffnungslos kontaminiert, war auf seinem Weg in die Station nicht über den Roboterhangar hinausgekommen. In seinem Leichnam hausten unzählige isische Mikroorganismen; de facto handelte es sich bei ihm um äußerst gefährlichen Bioabfall. Elam Mather hatte einen ferngesteuerten Medizinroboter benutzt, um den sterbenden Mac ruhig zu stellen und zu betäuben, ein grausamer aber zum Glück kurzer Prozess; nachdem exemplarische Gewebeproben entnommen und in die Glove-Box-Tresore[9] geschleust worden waren, hatte sie die Leiche auf die Rodung hinausschaffen lassen.
Zoe sah nicht zu genau hin. Man hatte den kostbaren Biopanzer zurückbehalten und Mac Feya in ein weißes Tuch gehüllt, wohl um dem Leichnam ein gewisses Maß an Würde zu verleihen. Doch der Körper unter dem Leichentuch war offensichtlich in Auflösung begriffen, wurde von isischen Mikroorganismen verdaut und mit unheimlicher Geschwindigkeit zu einer sirupartigen schwarzen Masse verarbeitet. Wie die CIBA-37-Maus, dachte Zoe. Zoe saß steif auf ihrem Stuhl und sträubte sich, diesen Todesfall als Omen zu betrachten. Höchstens als Warnung: Die isische Biosphäre ließ nicht mit sich spaßen. Sie war weder bösartig, noch wollte sie den Menschen Böses. Nicht Isis war das Problem, sondern die Menschen. Wir sind anfällig, dachte Zoe; wir haben uns in einem jüngeren und weniger umkämpften Biotop entwickelt. Hier sind wir Säuglinge.
Als die ersten Sonden Isis erreichten, hatte man große Mühe darauf verwendet, den Planeten vor menschlicher Kontamination zu bewahren. Doch es gab keinen terrestrischen Organismus, den die isische Biosphäre nicht hätte bändigen und verschlingen können; gegen das gewaltige Arsenal an Enzymen und Giften konnten die zarten Proteinhüllen irdischen Lebens nichts ausrichten. Isis hatte nicht anders gekonnt, als Macabie Feya zu töten.
»Der Planet hasst dich nicht«, hatte Theo einmal gesagt. »Aber seine Intimitäten sind verhängnisvoll.«
Zoe blickte über die Bahre hinweg auf den fernen Baldachin aus Wipfeln. Die Bäume waren gewunden, hatten dünne Stämme und reckten ihre Hauptäste wie große, grüne Hände. Der Wald war ihr Revier, dachte Zoe, daran würde sich nichts ändern. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, sich auf langfristiges Alleinsein in den Wäldern von Isis vorzubereiten. Wenn eine hiesige Spezies benannt werden sollte, konnte sie sie benennen; innerhalb eines breiten Spektrums von Gattungen konnte sie sogar vorläufige Doppelnamen für neue Spezies vergeben. Doch das hier war kein Lehrbuch, kein interaktives Programm und auch keine virtuelle Realität. Die reale Realität war mit einem Mal überwältigend, selbst wenn sie nur auf Umwegen in die abgekapselte Sicherheit des Gemeinschaftsraums fand: reale Brisen spielten mit den Blättern, reale Schatten verfinsterten den Waldboden. Nur noch ein paar dünne Wände trennten sie von Isis — endlich, endlich.
9
Glove-Box = isolierter Bereich, in den man nur mittels handschuhförmiger Einstülpungen hineingreifen kann