Buch
Russland 1822. Katya kann im Eis lesen. Farbe und Klang verraten ihr, wie es beschaffen ist – eine besondere Gabe, die sie mit ihrem Bruder Grischa verbindet. Beide haben große Träume und lassen schließlich die Armut ihres Heimatdorfes hinter sich. Ihre Reise führt sie über die Nordmeere bis nach Hamburg. Zusammen mit den ehrgeizigen Kaufmannsbrüdern Thilo und Christian gründen sie ein Handelsunternehmen. Der kühne Plan: das Eis des Nordens bis in die Tropen zu verschiffen. Doch der Weg zum Erfolg ist mit Stolpersteinen gepflastert, und auch die Gefühle zwischen Katya und dem verheirateten Christian drohen die jungen Eisbarone zu Fall zu bringen …
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Nicole C. Vosseler
Die Eisbaronin
Bis ans Ende der Welt
Roman
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2019
Copyright © 2019 by Nicole C. Vosseler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch die
Montasser Medienagentur, München.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: INTERFOTO/Historisches Auge Ralf Feltz;
Lee Avison/Trevillion Images
Redaktion: Ilse Wagner
LS · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17229-9
V001
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Eis ist nicht nur weiße Stille.
Es knistert und knirscht, flüstert, seufzt und ächzt. Manchmal donnert es, krachende Schläge, die den Boden erschüttern und weithin hallen.
Von zäher Öligkeit kann es sein, tonnenschwer oder luftig und schwebend. Irisierend blau, grün, türkis, von silbrigem Grau, schmutzigem Braun. Ein haushoher Wall, spiegelglatt oder vernarbt. Eine lichtdurchlässige Membran, die das Leben darunter schützt.
Klar und splitternd wie Glas ist das Eis und funkelnd wie ein Diamant. Ausdauernd und ewig, launisch und flüchtig. Von stählerner Härte oder weich wie Schnee, sprengt es Stein und versetzt sogar Berge. Je älter es ist, umso mehr Schätze und Geheimnisse hortet es in seinem Inneren, manche davon leicht entflammbar oder sogar explosiv.
Wie die Herzen der Menschen.
I Beregowoi pripai
Russland, 1822
Beregowoi pripai , russisch; landfast ice , englisch.
Meereis, das fest an der Küste verankert ist und spätestens bis zum Ende des Sommers aufbricht. Wenn starkes Eis dieser Art abdriftet, bildet es den sogenannten Eisfuß, der im Wind oder der Strömung rasch davontreibt: ledjanoi sabereg oder running ice .
1
Es war nicht die Kälte, die Grischa geweckt hatte. Eine Unruhe in den Gliedern hatte ihn aus dem Schlaf geholt, ein empfindliches Kribbeln in der Kuhle zwischen Nacken und Schädel.
Ein Schneesturm zog auf.
Auf dem Strohsack neben sich vermisste er den vertrauten Körper von Katya, die ihn für gewöhnlich ebenso warm hielt wie er sie; manchmal stieß sie ihn im Schlaf mit einem spitzen Ellbogen in die Rippen oder trat ihn gegen das Schienbein.
Im bläulichen Widerschein, der durch die Ritzen und Fugen im Holz sickerte, konnte Grischa die Umrisse des Vaters auf seinem Schlafplatz über dem Ofen erkennen. Die Schlafstätten seiner älteren Brüder auf dem Boden, die verrußte Luft überreif von Zwiebelatem und abgestandenem Schweiß, dem ranzigen Geruch der am Abend ausgelöschten Talglichter.
Seine kleine Schwester war nirgends zu sehen.
Mit klammen Fingern tastete Grischa nach den Schuhen; er kannte es nicht anders, als unter den aufgefädelten Pilzen und Beeren in seinen Kleidern zu schlafen.
Vor der Tür biss die frostige Nacht in sein Gesicht, der Gestank des Klohäuschens und des Misthaufens noch schärfer in der Winterluft. Immer achtsam, meckerten die Ziegen im Stall, und auch eine der Wächtergänse gab einen warnenden Schrei von sich. Wie tadelnd, weil Grischa zu dieser Unzeit herumlief.
Hinter der Lagerhütte für die Rüben und den Kohl ruhten die Felder und Weiden unter einer weichen Decke aus Schnee. Nicht ihr eigenes Land, sondern das des Grundherrn.
Sein Atem dampfend, zerrte Grischa an den Ärmeln der Jacke aus Schaffell. Über den Sommer war er in die Höhe geschossen; ein kräftiges Knochengerüst, das er noch nicht ausfüllte. Obwohl sie keinen Hunger litten, schien für ihn dennoch nie genug Brot auf den Tisch zu kommen, nie genug Fisch und Eier, zu wenige Piroggi und Blini. Mit seinen dreizehn Sommern war er jetzt schon fast so groß wie Jakov, der älteste der vier Brüder, oder wie Boris. Igor, der ihm im Alter am nächsten stand, hatte er längst überholt.
Auch Grischas Gesichtszüge hatten sich ausgedehnt und waren massiver geworden, der dunkle Flaum auf Kinn und Oberlippe jedoch noch weit von den buschigen Bärten seiner Brüder und des Vaters entfernt.
Das Kribbeln in seinem Nacken wurde stärker, lange würde der Wind nicht mehr auf sich warten lassen.
Die Lammfellmütze tief über die Ohren gezogen, folgte Grischa den kleinen Fußabdrücken im Schnee.
Hell dehnte sich der große See in der Finsternis aus.
Die harschigen Schneeschwellen am Ufer gaben unter Katyas Holzsohlen nach und durchnässten ihre löchrigen Schuhe. Morgen oder übermorgen würde sie neue flechten müssen; diesen Winter löste sich der Bast schneller auf als im vorigen, nach kaum ein paar Tagen. Der Sommer war trocken gewesen.
Ein Summen vibrierte in der schweigenden Nacht. Ein Pochen, regelmäßig wie ein Herzschlag.
Das Eis singt, dachte Katya.
Ein glückliches Kitzeln unter dem Brustbein, trat sie auf den zugefrorenen See, und jeder ihrer Schritte wirbelte Schneekristalle auf, die mit nadelfeinem Klang auf die glatte Fläche zurückfielen.
Mal klagende, mal lockende Laute schwirrten metallisch durch die Luft, von der dunklen Umarmung des Waldes in einem vielstimmigen Echo zurückgeworfen.
Das Eis singt.
Ein Lied, das Katya mit atemlosem Staunen erfüllte und sie weiter und weiter auf das erstarrte Wasser hinaustrieb.
Unter der schweren Stille des nächtlichen Waldes begann sich etwas zu regen. Auch die Tiere spürten den nahen Sturm, und Grischa ging schneller.