Выбрать главу

Auf einem Schiff war die Zeit eine andere.

Im Rhythmus, den der Wind und die Wellen vorgaben. In dem das Schiff schlingerte und auf und ab schaukelte, ein immer ähnliches Muster und doch nie dasselbe. Westwärts, Finnland auf der einen Seite, das Baltikum auf der anderen, dann nach Süden, durch die skandinavische Ostsee.

Bis der Segler sich aus der Umklammerung der Küstenlinien freigeschwommen hatte und durch die Meere des Nordens schnitt, kalt und rau wie die Männer an Deck.

Jeder Tag brachte neue Handgriffe, neue Wörter.

Steuerbord. Backbord. Achtern. Fieren. Abbrassen. Gangspill.

Für Katya bedeutete es die Arbeit in der Kombüse. Bei Anton, dem Smutje, der sich am Kai dafür eingesetzt hatte, dass der kleine und schmächtige Kostja als sein Gehilfe mitfahren durfte.

Anton verstand nicht viel vom Kochen, das begriff Katya schnell. Es mochte der Grund sein, weshalb er dem Gasthaus seines Vaters in Sankt Petersburg den Rücken gekehrt und stattdessen auf einem Schiff angeheuert hatte. Es spielte auch keine Rolle; denn wenn Anton zum Backen und Banken rief, stürmten die Männer herbei und schaufelten wahllos in sich hinein, was er und Katya aus Speck und Erbsen, Pökelfisch und Hering zusammengeworfen hatten.

Kostja, die Küchenschabe, nannten die Männer sie mit breitem Grinsen, weil sie meistens den Kopf gesenkt hielt, während sie eilig auftrug und wieder abräumte und dunkle Winkel dem Schein einer Laterne vorzog. Katya machten die Neckereien nichts aus. Sie blieb gern unsichtbar und war froh, sich nach getaner Arbeit in der Koje neben Grischa zusammenzurollen, sein Körper ein sicherer Schutzwall zwischen ihr und den schnarchenden Männern.

Sie mochte Anton, nicht nur weil er ihr sein zweites Paar Holzpantinen und ein Paar Strümpfe überlassen hatte, die seine Mutter gestrickt hatte. Immer gut gelaunt, wusste er auch Schwänke und haarsträubendes Seemannsgarn zu erzählen, Geschichten über die Seefahrt und Grönland und das Nordmeer.

Auf dem Tisch der Kombüse hatte Anton Mehl ausgestreut und Küstenlinien hineingemalt – Grönland, Skandinavien, England, Amerika. Eine Karte, wie sie auch Kapitän Borodin bei sich hatte, auf Papier, und Antons Finger hatte die Route durch das Mehl gezogen, die ihr Schiff nordwärts durch das Meer nahm.

Formen und Anordnungen und Ausrichtungen, die Katya sich einprägte und immer wieder aus ihrem Gedächtnis hervorholte. Über die sie nachdachte, während sie Erbsen einweichte und Fische in der Pfanne wendete, Töpfe abrieb und den Boden der Kombüse fegte.

Seltsam, dass man unwillkürlich den Blick anhebt, wenn man an den Norden denkt, ging es Katya dann durch den Kopf. Dort, wo er auf den Karten von Land und Ozean eingezeichnet ist, selbst wenn man sich nie mit einer dieser Karten vertraut gemacht hat.

Unbeirrbar zeigte die Kompassnadel zum Nordpol und bestimmte alle anderen Himmelsrichtungen, hatte Anton gesagt; ohne dessen Anziehungskraft wären die Schiffe auf den Meeren verloren.

Trug man vielleicht den Norden genauso in sich, wie es der Kompass tat?

Jenseits des scheinbar endlosen Wassers wartete eine Ödnis auf sie. Ein graufaltiges und zerklüftetes Land, moosbärtig und grasborstig; das Gesicht eines Greises, der zu viel vom Leben gesehen hat und nur noch in Frieden gelassen werden will.

Die Fröhlichkeit der Handvoll Holzhäuschen in Rot und Blau und Gelb wirkte gezwungen. Zumindest schlug sich nichts davon bei den dänischen Händlern nieder, die mit geschäftsmäßiger Strenge die Säcke mit russischem Korn in Empfang nahmen und dann um den Preis für grönländische Robbenfelle und Speckstein schacherten.

Die Menschen, die ursprünglich zu diesem unwirtlichen Land gehörten, wirkten fern, selbst aus der Nähe. Wie aus einer anderen Zeit, in zweckmäßigem Leder und Pelz gekleidet. Aus einer anderen Welt, die Augen schmal, der Blick feindselig, im besten Fall gleichgültig, die braunen Gesichter von den Elementen abgeschliffen.

Fern war auch das Eis. Ein glänzendes Futteral für einen kahlen Berg, Reste von Schnee in seinen schartigen Flanken. Weiße Ebenen, von der Kraft des kurzen Sommers an den Horizont gedrängt, an dem es auch in den Nächten hell blieb.

Meereis. Packeis. Schelfeis. Gletscher.

Katya lernte diese Begriffe, doch näher kam sie dem Eis nicht. So hoch in den Norden war sie gesegelt, und noch immer behielt er das, was Katya sich von ihm ersehnte, für sich.

Ich bin im Norden, sagte sie sich ein ums andere Mal.

Wenn sie zwischen den nackten Felsen stand und den Blick schweifen ließ. Während sie mit Anton die Kisten mit Fisch für die Rückfahrt schleppte. An der Reling, wenn der Wind ihr in die Wangen biss und sie sich anstrengte, so weit wie möglich in die Ferne zu sehen.

Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger kam ihr der Norden wie ein greifbarer Ort vor. Ständig schien er sich zu bewegen, ein anderes Gesicht zu haben, je nachdem, von wo aus man ihn betrachtete.

An einem runzligen Apfel hatte Anton ihr gezeigt, wo die Erde ihren Nordpol hatte, und Katya fragte sich, ob man den Norden jemals wirklich erreichen konnte. Denn wenn sie sich vorstellte, eines Tages dort oben zu stehen, wo der Apfel seinen Stiel hatte, am nördlichsten Punkt des Nordens – hätte sie ihn dann nicht bereits hinter sich gelassen und wäre schon wieder südlich davon, auf der anderen Seite?

Der Norden schien einen Weg zu beschreiben. Nie das Ziel.

Das Eis kam zu ihr, eines Morgens, das Schiff hatte Grönland bereits den Rücken gekehrt.

Größer als die Scheune des Gehöfts war der scharfkantige Splitter, der neben ihnen her driftete, seine Schrunden und Fissuren grünlich und bläulich schimmernd.

»Wenn die Gletscher im Norden Grönlands kalben«, erklärte Anton an der Reling neben Katya, »treiben solche Eisberge nach Süden. Bis weit in den Atlantik hinein.«

Katya nickte. Genau wie die Kühe auf dem Gutshof kalbten, das verstand sie auf Anhieb. Stark und ausdauernd wie ein ausgewachsener Ochse kam ihr dieser Eisberg auch vor.

»Wie lange es wohl dauert, bis er geschmolzen ist?«

Verblüfft sah Anton sie an, dann lachte er, dass sein Bauch bebte, und rieb ihr über den Kopf.

»Du stellst vielleicht Fragen!«

Katya runzelte die Stirn und zog die geliehene Fellmütze wieder über ihrem kurz geschnittenen Schopf zurecht. Hier an Deck brauste ihr der Wind um die Ohren und knatterte in den Segeln, während die Wellen zischend am Bug aufschäumten und gegen den Schiffsleib schlugen.

So nahe war Katya dem Eisberg, dass sie seinen kalten Hauch spüren konnte, und doch nicht nahe genug. Das Eis, aus dem er gewachsen war, wollte sie unter ihren Fingerspitzen fühlen. Sie wollte hören, wie er atmete; natürlich atmete er, dessen war sie sicher. Im gleichmäßigen Rhythmus der Wellen, die ihn immer weiter von seinem Ursprung forttrugen, bis er sich irgendwann in den Wassern eines Ozeans auflösen würde.

Anton zeigte auf die türkis und hellblau leuchtenden Wellen um den Eisberg.

»Siehst du, wie er das Wasser an seinem Fuß färbt? Bis weit in die Tiefe reicht er hinunter. Manche Lotsen sagen, zehnmal so tief. Und unter Wasser ist er viel, viel breiter. Deshalb drehen wir bei. Weil wir nicht sehen, wie weit sich der Eisberg unter uns ausdehnt und uns womöglich den Rumpf aufreißt.«

Katya hob den Kopf und suchte Grischa oben im Rigg. Inmitten der anderen Männer, die unter lauten Zurufen die Segel kürzten, zurrte er mit kraftvollen Bewegungen eine der Leinen fest. Ein Leuchten stand auf seinem Gesicht, und seine Augen blitzten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren Bruder das letzte Mal so glücklich gesehen hatte wie hier an Bord; er war geschaffen für ein Leben im Wind und auf den Wellen.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte Anton ihr, der ihren Blick falsch gedeutet hatte. »Kapitän Borodin hat sein Schiff schon an vielen Eisbergen vorbeigesteuert.«

Seine Hand streckte sich nach ihr aus, und Katyas Schultern versteiften sich.

Sie waren ja Freunde, hatte Anton gesagt, wenn er in der Kombüse ihr über die Schulter strich oder sie in die Wange kniff, und Freunde waren nett zueinander. Was wusste Katya schon über Freunde, sie hatte nie einen Freund gehabt, außer Grischa, und der war ihr Bruder. Und das Letzte, was sie wollte, war, hier an Bord die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie sich widerspenstig gab.