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»Sicher nichts Böses.«

Er hoffte selbst, dass ihnen nicht mehr bevorstand, als den Rest der Reise hier unten verbringen zu müssen.

»Wenn wir hier wieder herauskommen … was wird dann aus uns?«

Grischa fragte sich, ob das Schicksal sie beide bestrafte, weil er aus der Ackerfurche geflohen war, die sein Leben hätte sein sollen. Nicht dankbarer für die Chance, im Gasthaus von Pjotr Iwanowitsch zu bleiben. Vielleicht war die Welt aber auch schlicht derart ungnädig.

Am Ende bedeutete ein Leben in Freiheit womöglich nichts anderes als eine Abfolge von Missgeschicken, aus denen man lernte, beim nächsten Mal klüger, vorsichtiger, dreister zu sein. Und je hartnäckiger einen das Pech verfolgte, umso wahrscheinlicher war es doch, dass man bald wieder Glück hatte.

»Irgendwie wird es schon weitergehen.«

Katya nickte, nicht halb so überzeugt, wie Grischa sich gab. Und als er den Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog, schien er nicht nur seine Schwester trösten zu wollen, sondern auch selbst Halt zu suchen.

Nach der langen Zeit im Dunklen blinzelte Katya geblendet in die Sonne. Nach einer Ewigkeit im Laderaum, die nur ein paar Tage und Nächte gewesen sein mochten, ihre Muskeln weich, die Knochen steif von erzwungener Untätigkeit und ausgehungert.

Neben ihr sog Grischa genauso gierig den frischen Wind und die salzige Luft in die Lunge, während sich das Schiff zwischen Inseln hindurchfädelte. Schroff und sanft zugleich, mit ihren grauen Bergflanken, den grünen Wiesen, das Wasser der verzweigten Meeresadern tiefblau.

Eine neue, eine fremde Küste, vielleicht sogar ein ganz fremdes Land.

»Wo sind wir hier?«, flüsterte Katya beklommen.

Grischa kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

Zielstrebig steuerte der Segler eine Mole an und verlangsamte seine Fahrt.

Noch nicht einmal ein richtiger Hafen wartete auf sie, nur Holzschuppen, auf Pfählen ins Wasser gebaut und durch Stege mit dem Land verbunden. Dahinter schmiegte sich ein Städtchen an einen grünen Hügel, ein Kirchturm überragte die Dächer.

»Runter mit euch«, bellte Kapitän Borodin hinter ihnen, kaum dass die erste Leine vertäut, das Fallreep heruntergelassen war.

»Viel Glück!«

Die Stimme in ihrem Rücken troff vor Ironie; Katya musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Antons war.

Dieses Mal sahen Katya und Grischa dem Schiff nicht nach, als sie Hand in Hand über die Mole gingen.

Katya erhaschte gerade noch ein paar ungewohnte Wörter, dann verstummten die Gespräche der Fischer und Bootsbauer. Helläugige und hellhaarige Männer, die in ihrer Arbeit innehielten, um Katya und Grischa scheele Blicke zuzuwerfen und sie abweisend von Kopf bis Fuß zu mustern; aus den Augenwinkeln sah sie zwei Kinder davonrennen.

Die unfreundliche Stille legte sich erdrückend auf Katya, ihre Schritte wurden unsicher. Grischa fasste sie fester bei der Hand, seine Miene von fast schon verbissener Entschlossenheit. Tief durchatmend, erwiderte Katya den Druck seiner Finger und ließ sich von ihm mitziehen, auf die roten, weißen und braunen Holzhäuser zu.

Um noch einmal von vorn anzufangen, ohne eine Kopeke in der Tasche oder wenigstens ein Stück Brot, in diesem fremden Land.

II Raufrost

Tromsø, 1825

Raufrost , deutsch, auch Raueis oder Nebelreif ; ice feathers , englisch.

Strukturen, die sich windwärts an Festkörpern durch das Gefrieren von unterkühlten Wolkentröpfchen bilden. Gelegentlich eine Mischung aus Schneekristallen und Dunst oder Nebel, weist Raufrost in seiner häufigsten Form eine fedrige und undurchsichtige Textur auf.

8

Manchmal dachte Silja Guðmundsdóttir noch an jenen Sommertag, fast drei Jahre war es jetzt her.

Neuigkeiten sprachen sich schnell herum zwischen den nicht einmal dreihundert Seelen Tromsøs. Wie ein aufgeregt flatterndes Huhn war Oddveig Halvorsdotter mit gerafften Röcken herbeigelaufen und hatte Silja atemlos aufgefordert, die Fenster zu schließen und die Tür heute nicht mehr zu öffnen, weil zwei abgerissene Strolche von Haus zu Haus zogen. Russerne .

Als es wenig später bei ihr klopfte, war Silja Guðmundsdóttir vorbereitet und spähte hinter der Gardine hervor.

Der groß gewachsene Bursche sah wirklich zum Fürchten aus, die dunklen Haare verfilzt und einen struppigen Flaumbart im groben Gesicht. Breitschultrig und stark, als könnte er mit nur einer Hand einen Kehlkopf zerquetschen. Ein Kind hatte er dabei, genauso starrend vor Schmutz, genauso verwahrlost und zerlumpt, nicht einmal Schuhe hatte der Kleine an den Füßen.

Als dieser Junge den Kopf hob, fragte sich Silja verblüfft, ob es nicht vielleicht auch ein Mädchen war, dem man Hosen angezogen und die Haare kurz geschnitten hatte. Falls ja, musste ihre Not wirklich groß sein.

Niemand würde diese beiden zur Tür hereinlassen, in der ganzen Provinz nicht. Fremde waren hier nicht willkommen, es sei denn, sie brachten Geld oder wenigstens ein gutes Geschäft mit, wie Silja Guðmundsdóttir nur zu gut wusste.

Nach fast zwanzig Jahren war sie immer noch die Isländerin, auch nachdem sie mit Reidar Ingvarsson einen Norweger geheiratet hatte und man ihr die Achtung entgegenbrachte, die seiner Witwe gebührte.

Sehnsüchtig war der Blick des Jungen, der auch ein Mädchen sein mochte, über die Fenster gewandert. Ausgelaugt von Erschöpfung, schienen diese Augen nicht mehr viel Kindliches zu haben, als hätten sie schon zu viel gesehen.

Vielleicht waren es diese Augen, die Silja Guðmundsdóttir dazu bewogen, ihren Platz am Fenster zu verlassen; vielleicht war es die Erinnerung an den Argwohn, der ihr als junges Mädchen hier in Norwegen entgegengebracht worden war, obwohl damals doch über beiden Ländern die dänische Flagge wehte.

Oder schlichter Trotz, weil Oddveig Halvorsdotter ein solches Klatschweib war und sonntags zwar andächtig an den Lippen des Pastors hing, jeglichen Anflug von Nächstenliebe aber an der Kirchenpforte zurückließ.

»Hei« , rief sie durch die geöffnete Tür.

Der Bursche und das Kind waren schon am Gehen gewesen, wandten sich nun wieder um, und Silja Guðmundsdóttir hielt unwillkürlich die Luft an; die beiden stanken erbärmlich.

»Rabota?« , fragte der Bursche nach kurzem Zögern auf Russisch.

Arbeit. Abgenutzt klang es aus seinem Mund, der erwartungsvolle Glanz in seinen braunen Augen bereits verblasst. Silja konnte abschätzen, wie oft er schon gefragt hatte und jedes Mal in seiner Hoffnung enttäuscht worden war.

Dabei sprachen sie hier alle zumindest ein paar Brocken Russisch. Der Handel mit dem nahen Zarenreich hatte Tradition, früher war Tromsø der letzte Außenposten Norwegens gewesen. Eine Nähe, die sich als Rettung erwies, als die britische Seeblockade im vergangenen Jahrzehnt alle lebenswichtigen Handelsadern kappte, weil das dänische Norwegen in den Kriegen Napoleons neutral bleiben wollte.

Hungerjahre, in denen Händler wie Reidar Ingvarsson auf Schleichwegen über Land Geschäfte mit Russland machten, die die schlimmste Not linderten. Damals war man froh gewesen über jeden Kontakt ins Nachbarland, bevor sich Norwegen unter derselben Krone mit Schweden verbündete und mit dem Frieden bessere Zeiten anbrachen.

Und Arbeit – Arbeit gab es hier weiß Gott immer genug.

Ein Aufflackern von Empörung über ihre sonst so christlich gesinnten Mitbürger wischte den letzten Rest Zweifel in Silja weg.

»Rabota« , versprach sie und öffnete die Tür weiter.

Um die beiden hereinzulassen und den Herd anzufeuern, für ein heißes Bad, eine stärkende Mahlzeit, während der Bursche namens Grischa erzählte, wie sie von Sankt Petersburg über Grönland hierhergekommen waren. So viel Russisch verstand Silja, und der kleine Junge war tatsächlich ein Mädchen und hieß Katya.