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Silja ging die Sachen durch, die Reidar Ingvarsson zurückgelassen, Gäste im Lauf der Jahre vergessen hatten, um für Grischa etwas zum Anziehen und Rasierzeug herauszusuchen. Ihren eigenen Schrank durchforstete sie nach einem abgelegten Rock, einer Bluse, die sie rasch auf Kindergröße abändern könnte, und richtete die Kammer unter dem Dach her, die sie nur vermietete, wenn alle übrigen Zimmer belegt waren.

Für ein paar Tage, hatte Silja sich zuerst gesagt, bis die beiden wieder zu Kräften gekommen waren. Ein paar Wochen noch, solange das Haus voll war, sie Katyas Hilfe beim Putzen und Waschen und in der Küche brauchen konnte, Grischa ihr mit dem Feuerholz zur Hand ging, Wasser schleppte und den Abort saubermachte, einmal sogar den verstopften Kamin wieder freibekam. Und im Winter setzte man schließlich auch keinen vor die Tür.

Als Grischa dann im Frühling auf einem Walfänger anheuerte, war es eine Selbstverständlichkeit, seine kleine Schwester solange zu beherbergen, wo sollte sie sonst auch hin.

Drei Jahre nachdem die beiden an ihre Tür geklopft hatten, konnte Silja Guðmundsdóttir sich das Haus fast nicht mehr ohne Katya darin vorstellen. Ohne Grischa, der im Herbst aus dem Nordmeer zurückkehrte und das Holz für den Winter hackte und sich um das kümmerte, was nach dem Sommer repariert und erneuert werden musste, das ins Kraut geschossene Gras mit der Sense mähte.

Damit musste sich auch Oddveig Halvorsdotter letztendlich abfinden.

Katya gefiel es bei Silja Guðmundsdóttir, in der Kammer oben unter dem Dach, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Bett schlief, in einem Nachthemd.

Reich fühlte sie sich, mit zwei Blusen für den Alltag und einer feineren für den Kirchgang am Sonntag. Außer den Strohpantoffeln für das Haus besaß sie nicht nur ein Paar richtiger Schuhe, sondern auch warme Stiefel für den Winter und trotz all dieser schönen Sachen einen stetig wachsenden Sparstrumpf.

Der Lohn für ihre Arbeit in diesem Haus, das viel leichter sauber zu halten war als die Blockhütte des Gehöfts früher, selbst wenn die Gäste Sand und Schlamm an ihren Sohlen hereintrugen.

Ein schönes Haus war es, mit Fenstern aus Glas, hell und freundlich sogar in der kalten Jahreszeit. Wenn die Sonne hinter den Bergen blieb und Schneewolken sich an ihre Gipfel krallten und alles Licht schluckten, entzündete Silja Guðmundsdóttir mit Glaslaternen und Kaminfeuer Behaglichkeit. Nicht weit vom Hafen entfernt, waren die Zimmer beliebt bei Händlern auf ihren Wegen zwischen Nord und Süd, und Fru Guðmundsdóttir kochte gut.

Mit ihren mal dröhnenden, mal bedächtigen Stimmen brachten die Männer fremde Sprachen mit, in den Stoffen ihrer Jacken, den Reisekisten und Seesäcken Geschichten von anderswo. Katya fragte sich, wie es dort sein mochte, wenn sie Salzkrusten aus Mänteln bürstete, Betten aufschüttelte und dabei verstreute Hemden und Socken auflas und beim Fensterputzen den Schiffen nachsah, die in den Sund einliefen und wieder hinaussegelten.

Sie hatte ihre Lektion gelernt. Die Seefahrt war nichts für Mädchen. Nicht weil Mädchen untauglich dafür waren, sondern weil Männer es so bestimmten. Katya fügte sich, und trotzdem beneidete sie Grischa darum, seine Sommer auf See verbringen zu können.

Diese eine Fahrt ins Nordmeer hatte Spuren bei ihr hinterlassen. Nicht nur die Erinnerung an Härten und Angst und Ekel. Die Ernüchterung, dass das, was sie zu Hause mit ihren Brüdern und dem Vater erlebt hatte, überall auf sie warten konnte.

Auf dem Schiff hatte sie zum ersten Mal von etwas gekostet, das sie nicht zu benennen wusste. Wie etwas, das sich immer wieder an den Rand ihres Gesichtsfelds schlich, zwischen den Fugen der Dielen, wenn sie Stiefelabdrücke vom Boden schrubbte, und wenn sie hinsah, war es schon wieder verschwunden.

Vielleicht war es ihr Alter, zwölf war sie jetzt, vielleicht lag es auch daran, dass die Zeit hier eine andere Form hatte, in Wochentagen und Monatsnamen. Statt in Sommern und Wintern zählte Katya jetzt in Jahren, und statt sich nach dem Stand der Sonne zu richten, hielt sie sich an die Stunden, die die Kirchenglocke vorgab.

Katya wartete. Nicht nur darauf, dass Grischa im Herbst von einer seiner Fahrten zurückkehrte und der Winter kam und das Frühjahr ihren Bruder wieder von ihr fortholte. Auf etwas, das nie eine Gestalt bekam, immer namenlos blieb.

Wenn man doch schon mehr hatte, als man je zu hoffen gewagt hatte – wie konnte man sich dann nach noch mehr sehnen, ohne zu wissen, was es sein könnte?

Darüber dachte sie nach, wenn sie Bettbezüge und Tischtücher im Zuber wusch und draußen in der Meeresbrise auf die Leine hängte. Oder so wie jetzt, als sie auf dem Schemel stand und den Staub oben vom Bücherbord wischte.

Sie zog eines der Bücher zwischen seinen Nachbarn heraus und schlug es auf, wie sie es manchmal tat. Angestrengt starrte sie auf die schwarzen Zeichen, die ihr jedoch noch immer nicht verraten wollten, was sie in sich verbargen. Wie die Eisblumen und gefrorenen Farnwedel, die der Winter an die Fenster malte und deren Geheimnis Katya nur spüren konnte, nie greifen oder gar in Worte fassen.

Schritte näherten sich, fast hätte Katya sie nicht gehört; hastig steckte sie das Buch zurück und konzentrierte sich darauf, auch noch das letzte Stäubchen mit dem Tuch aufzunehmen.

Nachdenklich wanderte Silja Guðmundsdóttirs Blick zwischen Katya und dem Buch, das sie gerade so überstürzt zurückgestellt hatte, hin und her. Eine leichte Röte zog sich über Katyas blasses Gesicht, als fühlte sie sich bei etwas Verbotenem ertappt.

Silja wurde nicht schlau aus diesem Mädchen, das so still war. Nicht feindselig und auch nicht abweisend, nur verschlossen.

Ein scheues kleines Heinzelmännchen haben Sie da, hatte ein Händler aus Köln einmal lachend angemerkt.

Anfangs hatte Silja geglaubt, Katya wäre langsam im Denken, trotz ihres wachen Blicks, aber sie hatte ihr nur ein Mal zeigen müssen, wie sie die Laken gefaltet haben wollte und wie der Tisch gedeckt sein sollte. Aufmerksam, gewissenhaft und fleißig war sie und achtete dabei immer darauf, dass sie genauso sauber und adrett aussah wie die Zimmer des Hauses.

Katya machte es ihr schwer, anders als sachlich und reserviert mit ihr umzugehen. Silja wusste nicht einmal, wie viel Katya inzwischen von der dänischen Mundart mit norwegischen Wurzeln, die hier gesprochen wurde, verstand oder selbst sprach, obwohl sie in der Kirche immer mitsang.

Ihr Bruder war gesprächiger, wenn er den Winter über an Land war. Wie ein Schwamm hatte er die neue Sprache aufgesaugt, musste nur manchmal noch nach dem richtigen Ausdruck suchen oder sich mit einem russischen Wort behelfen; von ihm wusste sie um die Verhältnisse, denen die Geschwister aus Russland entflohen waren.

Umstände, in denen Silja sich wiedererkannte.

Silja Guðmundsdóttir hatte nie ein Island ohne Mangel und Armut gekannt. Obwohl sie noch nicht einmal geboren worden war, als die Aschewolken des Grímsvötn den Himmel verdunkelt und ausgekühlt hatten, die Ernten auf Jahre hinaus vernichtet und dazu noch alles wilde Grün. Die Krater des Laki hatten ihr Gift weit über die Insel versprüht und fast alle Schafe getötet, die Hälfte der Rinder und Pferde, die Nüstern der Kadaver schwefelgelb und verätzt.

Und wo der Boden unfruchtbar war, das Vieh einging, starben auch die Menschen. Zehntausende Opfer hatte die Móðuharðindin, die Nebelnot, gefordert. Eine Leere, die sich nur zögerlich wieder mit Kindern wie Silja füllte, für die es kaum genug zu essen und noch weniger Arbeit gab.

Fünfzehn Jahre alt war sie gewesen, als sie ihr Bündel für Norwegen schnürte. Sie hatte sich schwergetan in der Fremde, wie viel schwerer musste es für Katya gewesen sein, war es vermutlich immer noch.

»Kannst du lesen, Katya?«

Katya, die inzwischen vom Schemel herabgestiegen war und über die Schränke wischte, hielt inne. Erneut breitete sich Röte auf ihrem Gesicht aus, und sie schüttelte den Kopf, sodass ihr nachgewachsener Zopf über den Rücken tanzte.

Mehrere Handbreit in die Höhe geschossen war sie seit jenem Sommer vor drei Jahren, und obwohl sie tüchtig aß, schien nur wenig auf ihren Rippen hängenzubleiben.