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Silja Guðmundsdóttir zögerte, trat dann aber ein paar Schritte auf sie zu.

»Würdest du es denn gern lernen? Lesen? Und schreiben?«

Jetzt war es Katya, die zögerte. Obwohl sie von ihr bislang nur Gutes erfahren hatte, schüchterte Fru Guðmundsdóttir sie ein. In ihrer strengen Witwentracht, der große Mund meist zu einer dünnen Linie zusammengepresst, die Augen im breiten Gesicht kühlblau und eigentümlich schräg. Fuchsaugen.

Und Katya hatte noch nie solche Haare gesehen wie die stramm um den Kopf gewundenen Zöpfe von Silja Guðmundsdóttir, so hell, dass sie wie Mondlicht glänzten.

Katya gab sich einen Ruck und nickte.

Siljas Fingerkuppen tasteten über die Buchrücken, und schließlich zog sie das Neue Testament hervor. Bestimmt tat Katya sich leichter, wenn sie mit etwas anfingen, das sie schon aus den Sonntagspredigten kannte.

»Komm in die Küche, wenn du hier fertig bist. Dann bringe ich es dir bei.«

Das Leuchten in Katyas Augen war Silja fast unangenehm.

I begyndelsen var Ordet – im Anfang war das Wort.

Abends, nach vollendetem Tagwerk, saß Katya meist mit glühenden Wangen neben Silja Guðmundsdóttir am Küchentisch und lernte, sich durch die Evangelien zu buchstabieren.

Nur allmählich gestand sich Silja ein, dass sie Katya bisher keinen Grund gegeben hatte, sich zu öffnen. Dieses Mädchen, das nie eine Mutter gekannt hatte, rührte an einer Erinnerung, die sich tief in Silja verkapselt hatte. Tiefer als das kleine Grab auf dem Kirchhof, das sie selten besuchte, weil es ihr keinen Trost spendete.

Ihre viel zu früh auf die Welt gekommene, viel zu schwache Tochter war nach ihrer Nottaufe genauso ins Nichts hinübergegangen wie Reidar Ingvarsson, der nie vom Ufer des Weißen Meeres zurückkehrte.

Wenn Katya neben ihr mit den Buchstaben rang, immer häufiger ein kaum sichtbares Lächeln über ihr Gesicht huschte und ihr manchmal einen strahlenden Blick schenkte, spürte Silja, dass nicht nur Katya langsam so etwas wie Vertrauen zu ihr fasste.

Auch ihre eigene Schale bekam Sprünge.

9

Es gab kein elenderes Dasein als das auf einem Walfänger, hieß es unter Seeleuten.

Genüsslich schmückten sie ihre Schauergeschichten von madenverseuchtem Zwieback und schleimig grünem Trinkwasser aus, in denen die Gespenster von Skorbut, Ruhr und Cholera umgingen. Von Flutwellen und Stürmen erzählten sie, die Schiffe verschlangen.

Nach Blitzschlägen waren schon Walfänger als lodernde Fackeln durch die Wellen getrieben oder waren an Eisbergen zerschellt. Männer hatten sich bei einem Sturz aus der Takelage das Genick gebrochen, andere hatte die Fluke eines um sich schlagenden Wals zermalmt, und jeder wusste von mindestens einem Schiff, das im Nordmeer verschollen war, weil es nicht mehr genug Männer an Bord gehabt hatte, um es in den nächsten Hafen zu steuern.

Und das alles für einen Hungerlohn.

Grischa hatte sich von all diesen Geschichten nicht abschrecken lassen.

Es stimmte, auf der Havfruen war es eng und dunkel und klamm. Das Seewasser, so hoch oben im Norden auch während des Sommers eisig, war bis in den letzten Winkel zu spüren, und um die Gefahr eines Brandes in Schach zu halten, entzündete man ein Feuer in der Kombüse nur dann, wenn es unbedingt nötig war, kaum einmal, um sich zwischendurch trocknen zu können und daran zu wärmen.

Grischa machte es nicht viel aus. Er war jung und stark und schnell abgehärtet. Auch gegen den Gestank von ungewaschenen Männerleibern und fauligem Bilgewasser, nach Pisse und Kot, der umso stärker die Luft verpestete, je näher die Reise ihrem Ende zuging. Nicht selten noch verschärft durch den Geruch von Tran, den sie auf der Rückfahrt an Bord hatten.

Scheißwetter unter Deck, knurrten die Männer dann mit ihrem ganz eigenen ruppigen Humor, die erste Silbe überdeutlich betont.

Wenn es allzu schlimm wurde, dachte Grischa an das Geld, das ihm diese Fahrt einbringen würde. Kapitän Magne Halvorson zahlte nicht nur eine monatliche Heuer, sondern auch einen Anteil vom Erlös, und war die Fahrt besonders einträglich, winkte sogar ein Bonus.

Halvorson konnte es sich leisten; er wusste, in Tromsø würde ihm die Fracht aus den Händen gerissen, für fast jeden Preis, den er verlangte.

Das aus dem Blubber, der Fettschicht des Wals, ausgekochte Öl brannte in den Lampen der Häuser, diente als Schmiermittel und zum Heizen. Ein Grundstoff für Seifen, Lacke und Farben, war er außerdem eine wichtige Zutat, um Stoffe und Seile zu verarbeiten, besser, als jedes Öl aus Palmen, Raps oder Leinsamen es je könnte.

Die Mode der feinen Damen verlangte plötzlich wieder nach Fischbein aus den Barten des Wals, und zum ersten Mal ließen sich auch die vornehmen Herren ihre Mäntel und Gehröcke damit versteifen und in Form bringen. Fest, aber biegsam, steckte Fischbein in Schirmen, Ladestöcken, Angelruten, Peitschen und Wagenfedern. In feine Streifen geschnitten, wurden Siebe und Netze und Bürsten daraus, und klein geschrotet füllte es die Polster von Möbeln.

Innerhalb nur weniger Jahre war der Wal zum begehrten Rohstoff geworden. Aus einer althergebrachten Tradition der Nordländer, von der sich mehr schlecht als recht leben ließ, ein brummendes und weltumspannendes Geschäft.

Hasenherzig durfte man allerdings nicht sein, wenn man in diesem Teil der Welt auf Waljagd ging.

Die Meere des Nordens waren berüchtigt für ihre Launen, ihren plötzlich aufpeitschenden Zorn. Die Grenzen von Packeis und Festeis verliefen jedes Jahr anders, Eisschollen und Treibeis zwangen auf einen neuen Kurs, und jederzeit konnte ein Eisberg kreuzen. Selbst wenn sich das Wasser gnädig zeigte, tauchte der Bug vielleicht unvermittelt in eine Nebelwand, die jegliche Sicht nahm, vereiste eine plötzliche Kaltfront Takelage und Ruder und machte das Schiff manövrierunfähig. Und sollte sich eine Eisschicht auf das Deck legen, verschob sich der Schwerpunkt so massiv, dass der Segler zu kentern drohte.

Doch nur ein Narr kennt keine Furcht, pflegte Kapitän Halvorson zu sagen. Denn nur die Furcht lehrt einen den Respekt vor Himmel und Meer und lässt einen ein wachsames Auge haben.

Auch wenn die Segel der Havfruen prall von Zuversicht schienen, während sie nach Norden steuerte, blieb unterschwellig eine Anspannung spürbar. Sogar an den gemütlichen Abenden in der Kajüte, im Schein der Laterne, während die Planken und Spanten behaglich knarzten.

Kapitän Halvorson trank einen Schluck Bier und sah Grischa über den Rand des Krugs an.

»Was meinst du, wird das Wetter halten?«

Es war Grischas dritte Fahrt unter Magne Halvorson, und schon während der ersten war dem Kapitän aufgefallen, dass der Bursche nicht nur zupackte und hinter seinem schwerfälligen russischen Akzent flink im Kopf war. Er hatte auch einen sechsten Sinn für das Wetter; ein Schiff konnte sich glücklich schätzen, so einen Mann an Bord zu haben.

Gunnar, Trond und Ove, Männer wie aus Holzblöcken grob herausgehauen, blickten gespannt von den Karten auf. Asbjørn, der Rudergänger, blinzelte durch den Rauch seiner Tabakspfeife, deren Gestank er damit rechtfertigte, dass der Qualm Ungeziefer vertriebe und Krankheitserreger vernichtete.

Er hat den Sturm und den Regen in den Knochen wie ein altes Waschweib, sagten die Männer über Grischa. Wegen des Aberglaubens aller Seeleute ein bisschen argwöhnisch, mehr aber noch anerkennend, fast respektvoll, obwohl er der Jüngste an Bord war.

Grischa horchte in sich hinein. Nicht das leiseste Prickeln kräuselte seinen Nacken, seine Hände lagen ruhig auf dem schartigen Holztisch. Er spürte nichts als die gleichmäßigen Bewegungen des Schiffs, im Einklang mit seinem eigenen Pulsschlag.

»Bis morgen auf jeden Fall. Und der Wind bleibt beständig.«

»Gut.«

Die Linien unter den blassen, wie von der Sonne ausgebleichten Augen des Kapitäns fächerten sich auf; zustimmend zog Sverre geräuschvoll eine Prise Schnupftabak die Nase hinauf.