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»Wir sollten dich umtaufen«, lästerte Jonas gutmütig neben Grischa. »In Klabautermann.«

Er verpasste Grischa einen Klaps gegen den Hinterkopf, den dieser mit einem Stiefeltritt unter dem Tisch beantwortete.

Bär riefen sie ihn, anstelle seines Vornamens. Nicht nur weil er Russe war; jetzt, mit sechzehn Jahren, war er so groß, dass er den ausgewachsenen Männern auf Augenhöhe begegnete und es an Kraft mit ihnen aufnehmen konnte.

Im aufbrandenden Gelächter leerte der Kapitän seinen Krug und bedeutete dann seinen beiden Offizieren Harald und Morten, sich mit ihm zurückzuziehen und den Männern die Kajüte zu überlassen.

Halvorson steuerte sein Schiff mit strenger Hand und bestand auf einer klaren Rangordnung. Trotzdem herrschte eine freundschaftliche, fast familiäre Atmosphäre. Nicht nur, weil die Besatzung der Havfruen im Vergleich zu anderen Walfängern, denen sie auf ihrer Route begegneten, überschaubar war. Halvorson nahm nie mehr als zwanzig Männer mit, um Gewicht und vor allem Stauraum zu sparen. Und zumindest der harte Kern bestand auf jeder Fahrt aus denselben Männern, aus Tromsø oder von den umliegenden Inseln Senja, Kvaløya, Ringvassøya; nur Sverre, der Smutje, kam vom Festland. Von Haus aus Fischer, Handwerker oder jüngere Bauernsöhne, wollten sich die Männer über die Sommer etwas dazuverdienen oder sparten darauf, ein Geschäft zu eröffnen, ein Stück Land zu kaufen.

Man kannte sich, auch außerhalb der Jagdsaison. In Tromsø fuhr Grischa manchmal mit Carl zum Fischen hinaus und half ihm, seinen Fang zum Trocknen draußen auf Holzgestelle zu hängen, oder ging mit Olaf und Håkon ein Bier trinken.

Grischas Blick wanderte zu dem Mann, der in der Ecke saß und seit dem Auslaufen noch kein Wort mit jemandem gewechselt hatte. Auch während der Mahlzeiten blieb er für sich, widmete sich nur stumm seinem Essen. Der neue Harpunier, nachdem Viggo sich wegen seiner Gicht zur Ruhe gesetzt hatte.

Ledergesicht nannten sie ihn. Die Haut braun gegerbt, porös und von Narben übersät wie ein abgetragener Schuh, war er schwer auf ein bestimmtes Alter zu schätzen. Seine Bewegungen an Deck jedenfalls waren kraftvoll und geschmeidig, sein dunkles Haar noch ohne Grau.

Einen flüchtigen Moment lang erwiderte Ledergesicht Grischas Blick, dann starrte er weiter Löcher in die Luft, regungslos.

Jonas streckte sich unter herzhaftem Gähnen. »Ich leg mich aufs Ohr.«

Jonas hatte sich übers Jahr nicht verändert, rosig wie ein Schinken, weizenblond und die blauen Augen von entwaffnender Naivität, obwohl vier Jahre älter als Grischa.

Von Jonas waren die spielerischen Raufereien während Grischas erster Fahrt auf dem Walfänger ausgegangen. Wie junge Hunde hatten sie sich lachend gebalgt und einander in ruhigeren Momenten Träume von hübschen Mädchen zugeflüstert, mit heißen Ohren Fantasien zugeraunt.

Es schien nur konsequent herauszufinden, wie es war, wenn man von einer anderen Hand als der eigenen berührt und gerieben wurde, bis die Erregung sich entlud. Im Laderaum, einem dunklen Winkel an Deck; in waghalsiger Kühnheit nachts, während alle anderen in tiefem Schlaf lagen.

Aufregend zuerst und süchtig machend, aber letztlich nichts weiter als ein unbeschwerter Freundschaftsdienst, über den hinterher keiner von beiden weiter nachdachte.

Jonas’ Oberschenkel, der sich unter dem Tisch gegen den Grischas presste, war eine unmissverständliche Einladung, die heute ihre Wirkung verfehlte.

Nur einen Wimpernschlag lang hatte Grischa nicht hingesehen, und Ledergesicht war aus der Kajüte verschwunden.

Scharf zeichnete sich Ledergesichts Silhouette an der Reling ab, seine Haare vom Wind bewegt, die eckige Kinnlinie umso starrer, wie abweisend.

Grischa war plötzlich unsicher, was ihn überhaupt auf das nächtliche Deck gezogen hatte. Was er hier suchte.

Die Arbeit auf einem Walfänger war hart, aber niemand war härter als die Harpuniere. Wie kein anderer setzten sie ihr Leben aufs Spiel, wenn sie sich im Fangboot aufmachten, schnell und möglichst geräuschlos einem Wal nachzusetzen. Sie kamen dem Meeresriesen am nächsten, sie hatten nur diesen einen Versuch, ihn mit der Harpune zu erlegen. Und immer blickten sie der Gefahr ins Auge, mitsamt dem Boot von der Fluke des Wals zerschmettert oder unter die Wellen gepflügt zu werden.

Harpuniere mussten abgebrühte Killer sein.

»Was glotzt du so?«

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, trat Grischa zu Ledergesicht und streckte seine Rechte aus.

»Grischa.«

Ledergesicht warf nur einen kurzen Blick auf Grischas Hand, bevor er wieder auf das Meer hinausstarrte.

»Wolf«, erwiderte er einige Herzschläge danach. »Oder wolk , wie man dort sagt, wo du herkommst.«

Grischa lachte auf.

»Ich weiß nicht viel über Wölfe. Aber ich weiß, dass jeder Wolf, der einsam durch die Gegend streift, auf der Suche nach einem neuen Rudel ist.«

Vielleicht spiegelte sich etwas von den Bewegungen der Wellen auf Wolfs Gesicht, vielleicht zeichnete sich darauf aber auch tatsächlich so etwas wie eine Regung ab.

»So kann der erste Augenschein täuschen. Du siehst auch nicht aus wie ein Bär. Eher wie ein Adlerjunges, das aus dem Nest gefallen ist.«

Verlegen rieb Grischa über seine vorspringende Nase, die anscheinend nicht aufhören wollte zu wachsen. Umso prägnanter ragte sie aus seinem Gesicht hervor, das sich in den vergangenen drei Jahren gestreckt hatte und in einer schweren Kieferlinie auslief.

Wolfs Stimme klang aufgeraut, fast heiser. Sein Dänisch hatte einen gedehnten Zungenschlag, den Grischa nicht einordnen konnte.

»Wo kommst du her?«

Wieder ließ sich der Harpunier Zeit mit seiner Antwort.

»Friesische Inseln. Sylt.«

Knapp sagte er es, wie zum Abschluss, und auch Grischa fügte nichts mehr hinzu.

Lauernd hatten sie sich umkreist und ihre Reviere abgesteckt; jetzt gab es keinen Grund mehr, weshalb sie nicht nebeneinander an der Reling stehen sollten, um gemeinsam zu schweigen.

10

Die Havfruen hatte die Bäreninsel, einen von den Elementen abgenagten Fels, der im Nebel ankerte, hinter sich gelassen, und auch Spitzbergen. Eine Küste wie ein scharfzahniges Maul, das sich aus dem Wasser öffnete und den Reisenden zur Umkehr zu mahnen schien.

»Wal voraus!«

Der Ruf aus dem Krähennest, auf den sie seit Tagen gewartet hatten. Lautstark und fieberhaft verfielen alle an Bord in Betriebsamkeit; ein scheinbar wildes Chaos, in dem jedoch jedes Kommando, jeder Handgriff einem eingespielten Ablauf folgte.

Wie auf einen geheimen Zuruf setzte dann Stille ein, gespenstisch fast, sobald Gunnar und Trond, Ove und Olaf vom Schiff wegpullten, Wolf neben Håkon an den Bugriemen. Wie ein schnittiger Holzpfeil flog das Fangboot über die Wellen auf den Wal zu.

Die ersten Wale, die Grischa gesehen hatte, hatten ihm den Atem verschlagen. Kolosse allesamt, selbst die kleineren Arten wie der Buckelwal und der weiß gezeichnete Finnwal mit schlankem Rumpf. Wenn sie schnaubend aus den Fluten auftauchten, von einer majestätischen Erhabenheit, die das Fangboot zu einer Nussschale schrumpfen ließ, die Männer darin zu Zwergen.

Der lange Seiwal, dunkelgrau und weiß, mit seiner spitzen Schnauze und der Sichelfinne. Gewaltige Blauwale und die Pottwale mit ihren massigen Schädeln. Der Grönlandwal und der Nordkaper, tiefschwarz und weißnarbig von Seepocken und Krebsen, begehrt wegen seiner dicken Speckschicht. Der Narwal, das Einhorn der Meere.

Dieses Jahr hatte Grischa nur Augen für Wolf.

Biegsam wie eine Feder und genauso stramm stand Wolf aufrecht im schaukelnden Boot. Erschreckend klein vor der nass glänzenden Wand des Walleibs und doch im Vorteil des Jägers, der sich an seine ahnungslose Beute herangepirscht hat. Geradezu schwerelos hielt er sich in der Balance und wartete auf den richtigen Augenblick.

Im Sonnenlicht blitzte es auf, als Wolf den schweren Eisenzacken von sich schleuderte. Blut sprudelte aus der Wunde hervor. Von Gunnar, Håkon, Ove und Trond am Seil im Zaum gehalten, bäumte der Wal sich auf, während Wolf zu der Lanze griff, die Olaf ihm hinhielt.