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Johann Silberberg schmunzelte.

»Ich glaube, es hat noch nie jemand einen gewogen. So viel wie tausend der größten Walfische, vermutlich. Es ist auch schwierig, ihn zu vermessen, weil sieben Achtel von ihm unter Wasser sind. Wir schätzen, dass ein durchschnittlicher Eisberg so hoch ist wie ein Haus mit zehn Stockwerken oder noch höher.«

Katya blieb stehen und versuchte, sich diese gewaltigen Ausmaße vorzustellen, drei Häuser wie das von Silja Guðmundsdóttir aufeinandergestapelt und noch ein Stockwerk oben draufgestellt.

Über die verschneiten Bergrücken auf der anderen Seite des Sunds ergoss sich bereits der erste blaue Dämmerhauch des Nachmittags. Als könnte sie dahinter schon die Ausläufer der Arktis erkennen, so fühlte es sich an. Eine unermessliche Weite aus Eis und Schnee, genau wie ihr Gegenpol am anderen Ende der Welt.

So viel Eis und Schnee gab es oben im Norden und unten im Süden, dass es die ganze Welt überfluten würde, sollte es einmal schmelzen. Zumindest glaubten das Forscher wie Johann Silberberg. Kein Mensch war jemals dort gewesen, weder am Nordpol noch an dem Pol des Südens.

Oberhalb von Grönland und unterhalb von Australien endeten die Karten der Welt.

»Das ist eine Menge gefrorenes Wasser«, sagte sie schließlich, »ein solcher Eisberg. Wenn es in seinem Innern so kalt ist, dauert es doch sicher lange, bis er ganz geschmolzen ist.«

Johann Silberberg nickte.

»Theoretisch könnte man einen Eisberg in eine Wüste irgendwo auf der Welt schleppen. Selbst wenn auf dem Weg dorthin ein großer Teil von ihm geschmolzen ist, bleibt noch genug übrig, um mehrere Dörfer mit Wasser zu versorgen, viele Monate lang.«

Mit seinem Wissen über das Eis brachte Johann Silberberg auch die Welt zu Katya. Gemeinsam hatten sie sich über die Karten gebeugt, die Johann Silberberg vor ihr ausgebreitet hatte, die Küste Norwegens eingekerbt und zerklüftet wie eine abgenutzte Bürste, hinter den Inseln und Fjorden ein Land der Seen, von Gletschern erschaffen.

Und doch nur ein schmales Streifchen Land auf der ganzen großen Erdkugel.

Mit leuchtenden Augen wanderte Katya weiter, durch das kristalline Ufergras, das an ihrem Rocksaum knisterte, auf den gefrorenen Weiher zu.

Sie war schon ein paar Schritte auf dem Eis gegangen, als sie bemerkte, dass Johann Silberberg hinter ihr zurückgeblieben war. Mit einer halben Drehung setzte sie einen Fuß hinter den anderen.

»Kommen Sie!«

»Auch wenn dieser Weiher nicht sonderlich tief aussieht, ziehe ich es vor, hier stehen zu bleiben.«

Mit beiden behandschuhten Händen strich er über seine Jacke.

»Fru Guðmundsdóttirs gute Küche, weißt du.«

Das Eis war noch frisch, Katya konnte es schwingen fühlen, aber schon fest genug, dass es tragen würde, auch das spürte sie.

»Kommen Sie, Herr Silberberg. Es hält uns beide aus, das verspreche ich Ihnen.«

Johann Silberberg kniff ein Auge zusammen.

»Du weißt, dass mit einem solch verlockenden Versprechen einer Frau das Unheil über die Menschheit gekommen ist, ja?«

Tatsächlich wusste Katya nicht, was er meinte. Sie legte trotzdem den Kopf in den Nacken und lachte, so leicht und frei war ihr zumute.

Mit der Tapsigkeit eines Bibers wagte sich Johann Silberberg schließlich auf den Weiher. Nach ein paar Schritten, die sie nebeneinanderher glitten, ging er vorsichtig in die Hocke und tastete mit seinem Handschuh über das Eis, das von der glänzenden Klarheit eines Spiegels war.

»Friert er jeden Winter zu?«

»Das weiß ich nicht. Ich stehe das erste Mal darauf.«

Verblüffung lockerte Johann Silberbergs Züge, bevor sie sich konzentriert anspannten.

»Woher wusstest du dann, dass es stark genug für uns beide ist?«

Unter seinem eindringlichen Blick hob sie die Schultern.

»Ich wusste es einfach.«

Seine Brauen zuckten, während er zu begreifen versuchte.

»Wie, Katya? Wie kannst du so etwas wissen?«

Das Eis, nach dem Katya sich gesehnt hatte, war immer da gewesen, jeden Winter, den sie hier in Tromsø verbracht hatte. Sie hatte es nur aus den Augen verloren, bis Johann Silberberg ihren Blick wieder darauf lenkte, ihn schärfte und erweiterte.

»Ich fühle es«, vertraute sie ihm schließlich an.

Sein Mund wiederholte stumm ihre Worte, dann klopften seine Handschuhfinger auf das Eis.

»Wie fühlst du es? Kannst du mir das beschreiben?«

»Es schwingt.«

Katya ging vor ihm in die Hocke, zog ihren Handschuh aus und legte die Fingerkuppen auf den gefrorenen Weiher, während sie angestrengt nach einem Vergleich suchte, nach einem Bild.

»Wie ein gesund schlagendes Herz. Geschmeidig und gleichmäßig und stark.«

Johann Silberberg schwieg, offenbar tief in Gedanken. Sein Blick wanderte zwischen Katya und dem Eis unter ihren Händen hin und her.

Mit dem Verstand und wissenschaftlichen Methoden hatte Johann Silberberg erforscht, was Katya immer erspürt hatte. Dass undurchsichtiges weißes Eis viel Luft enthielt, weshalb es wenig wog, aber auch zerbrechlich war. Klares Eis jedoch, langsam gewachsen, konnte nicht mal mit schweren Knüppeln zerschlagen werden. Doch obwohl es das Gewicht vieler Männer trug, von Pferden und schwer beladenen Schlitten, ließ es sich mit nur einer Glasscherbe tief einritzen und mit einem gewöhnlichen Messer zerschneiden.

Seine Struktur war dafür verantwortlich; welche Größe und Form die Kristalle in seinem Inneren hatten, wie sie sich zueinander anordneten und veränderten.

Eis war nie ein gleichbleibender Zustand, sondern immer im Fluss.

»Haben Sie je das Eis singen hören?«, fragte Katya nach einer Weile leise.

Er wusste sofort, was sie meinte.

»Wenn sich die Temperatur verändert, gerät das Eis eines Sees in Bewegung. Manchmal klingt es wie Gewehrschüsse oder wie Kanonendonner. Bei einer bestimmten Temperatur gibt das Eis dann diese langgezogenen Töne von sich. Je weniger Schnee liegt, der Geräusche dämpft, umso weiter kann man es hören.«

»Der schönste Klang der Welt«, flüsterte Katya.

»Ja.«

Ein Lächeln schien zwischen ihnen auf, in dem sich ihre Blicke festhielten, seelenverwandt.

»Zu schade«, raunte Johann Silberberg, »dass du mich nicht auf meiner nächsten Reise begleiten kannst. Ich würde dir gern Formen von Eis zeigen, die du noch nicht kennst. Mir von dir erzählen lassen, wie es sich für dich anfühlt.«

Ein warmes Kribbeln im Bauch und mit noch wärmeren Wangen lächelte Katya. Er hätte ihr nichts Schöneres sagen können.

»Es scheint so einfach«, sagte Johann Silberberg nach einer Weile. »Das Eis. Simpel geradezu. Wasser und Luft, mehr ist es nicht. Aber Wasser und Luft machen Leben auf dieser Erde erst möglich, sie waren der Ursprung von allem.«

Er schmunzelte, seine struppigen Brauen zuckten.

»Frag irgendwen auf dieser Welt, welches das mächtigste Element ist. Gold, werden manche sagen, oder Silber. Andere werden das Feuer nennen oder das Wasser oder die Erde. Nicht zu Unrecht. Nur das Eis wird keiner erwähnen. Dabei ist es doch die Kälte, in der die Felle der Tiere dicker, weicher, schöner wachsen und sich anders färben. Der Winter macht die Wölfe wilder, und im Frost wird der Ackerboden locker und fruchtbar. Kupfer, Glas und Steingut zerspringen in der Kälte, und Fisch bleibt ein halbes Jahr darin frisch, auch ohne ihn einzusalzen. Nägel springen aus den Wänden, Steine bersten auf dem Feld, und Gebirge begeben sich unter dem Eis auf Wanderschaft, jedes Jahr um ein paar Haaresbreiten.«

Johann Silberberg verstummte, wie um Katya Zeit zu lassen, darüber nachzudenken oder selbst diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

»Die Inuit«, fuhr er dann fort, ernst und fast feierlich, »erzählen sich, dass am Anfang der Zeiten das Eis noch brannte, den Menschen Licht spendete und Wärme. Wenn du mich fragst, gibt es kein mächtigeres Element als die Kälte. Das Eis ist das, was unsere Welt im Gleichgewicht hält.«

In den ersten frischen Schneeflocken, die vom Himmel herabschwebten und sie umtanzten, nahm Katya Johann Silberbergs Worte in sich auf.