Vielleicht war es das, was sie immer schon gespürt hatte. Die Magie, die im Eis steckte.
Eine ganz besondere Macht.
Den Winter in Spitzbergen zu verbringen, das hatte für Grischa nach leicht verdientem Geld geklungen.
Verglichen mit dem Walfang bedeutete es auch leichte Arbeit. Von der Hütte im Fjord, tief in die Küste hineingeschnitten und von Berghängen beschützt, fuhren sie mit Hundeschlitten in das Inselinnere, in unzugänglicherem Gelände auf Skiern, um die Fallen zu leeren; Holzkisten, deren simpler Mechanismus die Polarfüchse mit einem Stein erschlug.
An Ort und Stelle weideten sie die Tiere aus und nahmen nur die gesäuberten Felle mit zurück, um mit dem Geruch von Blut, Innereien und rohem Fleisch keinen Eisbären zur Hütte zu locken. Die Männer selbst lebten von mitgebrachtem Zwieback und Stockfisch, von frischem Fang und den kurzbeinigen und stämmigen Rentieren der Insel.
Es war die Polarnacht, die Grischa unterschätzt hatte. Im Dunkeln verließen sie die Hütte, holten im Dunkeln ihre Beute ein und kehrten immer noch im Dunkeln in den Fjord zurück.
Ein Zustand fortwährender Blindheit, kaum erhellt vom blassen Licht der Sterne, Lampenlicht und dem Flackern des Feuers. Nicht mehr als zittrige Fünkchen in der weiten Finsternis, leer und still.
So etwas wie Zeit gab es nicht, und der Mond, der sich ab und zu sehen ließ, leuchtete zu schwach, um in der endlosen Schwärze eine Prägung zu hinterlassen.
Nach Freiheit und Abenteuer hatte es sich angehört, stattdessen fühlte sich Grischa hier eingekerkert. Scharf bewacht von den Eisbären, die draußen herumstreunten, bleiche Geister in der Landschaft aus Schnee und Fels, gierig nach eigener Beute, gleichgültig, ob Tier oder Mensch.
Und es gab kein Entkommen. Vor März würde das Packeis nicht aufbrechen, vielleicht auch erst im April. Sogar das Licht würde früher zurückkehren als ein Schiff, auf dem die Männer die Insel verlassen konnten.
Einmal hatten sie einen Eisbären gesehen, ganz aus der Nähe, draußen bei den Fuchsfallen, in einer Senke zwischen den Bergen.
Vielmehr seine Bewegungen hatten sie gesehen, weiß auf weiß in finsterer Nacht, ein merkwürdig umgekehrtes Schattenspiel. Wegen der Überreste der Füchse war er gekommen, vielleicht hatte er auch auf die Männer gewartet. Er war so nahe, dass Grischa seinen Atem hören konnte, sein Zögern spürte.
Eine Kreatur wie aus einer jenseitigen Welt, die nicht nur auf sein Fleisch und Blut aus war, sondern auch auf seine Seele.
In nur einem Wimpernschlag schien die Polarnacht noch eisiger, wie erstarrt, die tiefen Atemzüge der Männer halb Furcht, halb grimmige Entschlossenheit, während sie in langsamen Bewegungen zu ihren Waffen griffen; Sigurds Gewehr gab ein Klacken von sich.
Auch Grischa fasste das Messer fester, mit dem er den Pelz der Füchse abgeschält hatte, bereit, den Bären zu töten. Und war dann doch froh, als der Eisbär sich schnaubend abwandte und mit dem weißen Element verschmolz.
Es hatte Grischa nie etwas ausgemacht, eine Ziege oder ein Schaf zu schlachten. Genauso wenig störte er sich daran, einen frisch erlegten Wal zu zerteilen oder die Pelze der toten Füchse abzuziehen; eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Bei diesem Bären hätte es ihn gedauert. Dies war sein Reich, in das die Männer eingedrungen waren, und er hätte jedes Recht gehabt, sie zu töten. Nicht feige wirkte er, als er sich in den Schnee zurückzog, sondern fast weise. Voller Nachsicht mit den Zweibeinern, die sich auf solch lächerliche Weise in einer kalten und erbarmungslosen Umwelt abmühten, für die sie nicht geschaffen waren.
Grischa fühlte sich an die Bärin erinnert, am Ufer des großen Sees, eine Ewigkeit schien es her zu sein, und daran, was Katya ihn an jenem Tag gelehrt hatte. Dass es zu unterscheiden galt, wann man kämpfte und wann man den Weg des Klügeren ging.
Grischa fragte sich, ob man alles im Leben letztlich auf diesen Zwiespalt zurückführen konnte. Und woher man wusste, welches die richtige Entscheidung sein würde.
Am schlimmsten war es, wenn ein Schneesturm tobte und ihre ganze Welt auf die Enge der Hütte zusammenschrumpfte. Wie lebendig begraben fühlte Grischa sich dann, die Unruhe, die der Sturm in ihm heraufbeschwor, das Kribbeln zwischen Nacken und Schädel und der Druck in seinem Kopf ununterscheidbar von Panik und Zorn.
Von dem Hunger nach Licht und Luft und danach, frei zu sein.
Jetzt verstand er, warum Sigurd nur für kurze Zeit auf seinem Stuhl in der Ecke eindöste, immer angespannt, immer auf der Lauer, und warum Ejnar, der seinen zweiten Winter hier hätte verbringen sollen, im letzten Augenblick abgesprungen war. Warum Rune und Kjell ihn nur stumpfsinnig ansahen, wenn er sie nach ihrem Leben jenseits des Spitzbergener Winters fragte.
Die scheinbar endlose Polarnacht eines solchen Winters konnte einen Mann in den Wahnsinn treiben und in einen Geist verwandeln. Der einzige Ausweg war, sich in sich selbst zurückzuziehen und an dem festzuklammern, was man dort fand.
Bei Grischa war es der unbedingte Wille, diesen Winter zu überstehen, heil an Leib und Seele und mit klarem Verstand. Wenn draußen der Sturm Schnee vor der Hütte aufhäufte, buchstabierte Grischa sich durch ein Handbuch der Navigation, das er sich zugelegt hatte, und übte sich am Alphabet, bis ihm das Papier ausging.
Während der Wind draußen fauchte und die Hunde heulten, gespenstisch hohl, als müssten sie sich verzweifelt ihrer Wolfsnatur versichern, entwarf Grischa für sich ein Leben, in dem er nicht mehr nur für andere arbeitete.
Sein eigener Herr wollte er sein. Allein dem Wind und dem Wetter unterworfen, der einzigen Macht, bei der er akzeptieren konnte, dass sie größer war als sein Wille, sein Ehrgeiz.
Ihre Veränderlichkeit war das einzige Versprechen, dem er traute.
15
Das Licht des Sommers war gereift wie die Früchte in den Gärten und auf den Feldern. Satt und schwer troff es von den Bergen und färbte das Wasser umso blauer. Die Tage wurden merklich kürzer, morgens und abends lag schon der mulchige Hauch von Herbst in der Luft.
Das Wischtuch in der Hand, hielt Katya inne und beobachtete das Schiff, das durch den Sund zog. Die Segel an den Kanten eingerissen, hatte es eine offensichtlich lange und raue Fahrt hinter sich. Das halbe Dutzend Beiboote wiesen es als Walfänger aus, der zweite schon an diesem Morgen.
Katya beeilte sich, die letzten Scheiben der Sprossenfenster blank zu polieren, den Eimer zu leeren und die Wischtücher ausgewrungen zum Trocknen aufzuhängen.
»Die Fenster sind alle geputzt, Fru Guðmundsdóttir«, rief sie auf der Schwelle zur Küche, gefolgt von einer unausgesprochenen Frage.
Silja Guðmundsdóttir holte einen dampfenden Laib Brot aus dem Ofen und klopfte mit dem Fingerknöchel daran; ihre Mundwinkel hoben sich zufrieden, als es hohl klang.
»Ist gut, Katya. Sei spätestens um halb zwölf wieder hier, ich brauche dich für das Mittagessen.«
Eilig band Katya sich die Schürze ab und hängte sie an den Haken.
»Danke, Fru Guðmundsdóttir.«
Durch das geöffnete Fenster sah Silja ihr nach, wie sie zum Wasser hinunterlief, ihren blauen Rock mit den Händen gerafft, die beiden Zöpfe, zu denen sie ihr Haar geflochten hatte, über den Rücken von Bluse und Miederweste tanzend. Rank und schlank wie eine Birke war sie jetzt, auf halbem Weg zwischen dreizehn und vierzehn Jahren.
Ein Backfisch, dachte Silja.
Dieses Frühjahr hatte Katya zum ersten Mal geblutet. Eine rostige Schmiere, wegen der sie hilfesuchend zu Silja gekommen war und die sich über den Sommer zu einem Sturzfluss ausgewachsen hatte, jeden Monat aufs Neue. Verstörend gewalttätig für einen so schmalen Mädchenleib, unter hackenden Krämpfen, die Katya kalkig weiß und halb krank hinnahm.
Eine Phase heftigen Blutens, hoffte Silja, die sich mit der Zeit bestimmt normalisieren würde. Und trotzdem kam ihr jedes Mal in den Sinn, dass man über die Frauen Islands sagte, sie seien nach außen hin kühl und schroff, aber in ihrem Inneren brodelte ein Vulkan.