Grischa zog den Rasierer durch das Wasser in der Schüssel.
»Das ist es ja. Wer soll das Eis denn kaufen? Wer welches braucht, holt es sich im Winter selbst.«
Wenn man einmal die Augen angehoben hat, ist es unmöglich, wieder nur auf seine Schuhspitzen zu starren. Katya verstand nicht, wie Grischa, der mehr von der Welt gesehen hatte als sie, seinen Blick nicht weiter über den Horizont hinaus richtete.
Sie jedenfalls bekam den Eisberg in der Wüste nicht aus dem Kopf.
»Die Länder, die keine Winter kennen, natürlich. In denen es so heiß ist, dass man froh wäre um ein bisschen Eis.«
Grischa hielt inne, als sich ihre Blicke im Spiegel trafen.
»Hast du eine Ahnung, wie weit es bis dorthin ist? Wie lange ein Schiff braucht, um Afrika zu erreichen oder den Rest der Welt?«
Mit seinem Interesse an Navigation hatte er bei Kapitän Halvorson offene Türen eingerannt; im Wechsel mit beiden Offizieren hatte Halvorson Grischa die über den Winter erlernte Theorie in die Praxis umsetzen lassen. Als Maat war Grischa jetzt zurückgekehrt, mit entsprechend mehr Heuer in der Hosentasche; seine Sichtweise auf den Horizont war eine andere.
Katya gab nicht nach.
»Frederic Tudor hat es doch auch geschafft.«
Grischa fuhr damit fort, in schnellen Bewegungen über die empfindliche Oberlippe zu schaben.
»Ja. Von Neuengland in die Karibik. In Seemeilen ein Katzensprung. Wir reden hier aber über Monate auf See, Katya. In dieser Zeit ist dir das Eis im Laderaum weggeschmolzen, und du kannst höchstens noch das Wasser verkaufen, das geblieben ist. Sofern es unterwegs nicht schon unbrauchbar geworden ist.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Katya. »Gletschereis schmilzt langsamer als Eis aus einem See oder einem Fluss. Umso langsamer, je größer die Menge.«
Grischa schüttelte den Kopf und wischte sich den Rest Schaum aus dem Gesicht, rieb sich dann mit einem Tuch trocken.
»Wahrscheinlich wissen die Leute dort nicht einmal, dass es so etwas wie Eis gibt. Und offenbar kommen sie auch gut ohne zurecht. Denn wenn es ein so gutes Geschäft wäre, dann hätten es schon längst viele andere gemacht.«
Verstimmt senkte Katya den Kopf und streichelte die Schuhe, die Grischa ihr von den Inuit mitgebracht hatte, pelzgefüttert und das weiche Leder kostbar bestickt. Sie fragte sich, ob Grischa in den vielen Monaten auf See verlernt hatte, zu träumen und große Pläne zu schmieden.
Dass die Idee gut war, das Eis des Nordens in den Süden zu verschiffen, daran zweifelte sie jedoch keinen Augenblick. Sie wusste nur nicht, wie sie Grischa davon überzeugen konnte.
Das Flämmchen der Lampe war am Verlöschen. Grischa beobachtete sein Züngeln und Zucken, während Silja an seiner Schulter schlief.
Eis in die Tropen verschiffen. Es in die Wüste verkaufen.
Grischa hatte wirklich noch nie etwas derart Verrücktes gehört. Einmal mehr lachte er stumm in sich hinein, und trotzdem ging es ihm immer wieder durch den Sinn. Vielleicht, weil Katyas Argumente in sich schlüssig klangen und sie noch nie eine Traumtänzerin gewesen war; vielleicht aber auch, weil seine Gedanken unablässig um Geschäfte kreisten.
Der Fang dieses Jahres war gut gewesen, die Gier nach Tran und Fischbein ungebrochen, geradezu unersättlich. Trotzdem war der Erlös geringer ausgefallen. Zu viele Walfänger drängten sich inzwischen auf dem Nordmeer und unterboten einander bei ihrer Rückkehr, um ihre Fracht so schnell wie möglich an den Mann zu bringen.
Wolf hatte recht behalten, über kurz oder lang würde Grischa sich etwas anderes suchen müssen, wollte er mehr Geld verdienen als bisher.
Mit einem tiefen Atemzug, halb ein Seufzen, regte sich Silja und blinzelte in das flackernde Licht.
Ein Lächeln erschien auf ihren Gesichtern. Siljas Hand legte sich auf seine Wange, glitt dann in sein Haar. Wie ihre Finger sich darin vergruben und wie sich das Gewicht ihrer Brüste dabei sanft an seiner Haut rieb, rief seine schlafende Männlichkeit wieder wach.
Sie bog den Hals zurück und brach in ein kaum hörbares Lachen aus, das er mit einem langen Kuss erwiderte.
Der sanfte Druck seines Knies genügte, damit sie ihre Schenkel öffnete, und während Grischa sich mit aller Leidenschaft seiner siebzehn Jahre in ihrer reifen Weiblichkeit verlor und schließlich seinen Samen vergoss, trieb der Gedanke an das Eis eine erste feine Wurzel in ihm aus.
III Schwarzeis
Hamburg, 1827
Schwarzeis , deutsch; black ice, englisch.
Eine hauchdünne Eisschicht aus leichtem Regen oder Niesel auf kaltem Boden, die mit der Oberfläche verschmilzt und dadurch unsichtbar wird.
Analog dazu eine feine Eisdecke auf tiefen Gewässern, die bei Schneefall festen Untergrund vorgaukelt. In der Seemannssprache das Eis, das sich wie eine Glasur anlagert, das Schiff topplastig macht und kentern lässt.
Seine absolute Transparenz macht Schwarzeis so gefährlich: Man sieht es nicht.
16
Im Gemischtwarenladen auf dem Kehrwieder brannten noch alle Lampen, obwohl es schon fast neun Uhr war. Wolken zogen tief über die Stadt hinweg und schleppten die Dämmerung in den Dezembermorgen hinein; es sah nach Schnee aus.
Seit sechs Uhr in der Früh hatten die beiden Brüder Petersen auf die Karren aus anderen Teilen der Stadt und vom Land gewartet. Jetzt lagen neue Käselaibe bereit und frische Butter, stapelten sich die Kisten mit Gemüse, und die Schütten mit Graupen, Bohnen, Erbsen und Mehl, Zucker und Salz und Backobst waren wieder voll, der Pfeffer frisch gemahlen.
Christian, mit einundzwanzig Jahren der Jüngere, stand auf der Leiter und ließ sich von Thilo die nachgefüllten Bonbongläser reichen, um sie oben ins Regal zu stellen.
Die Türglocke ging, und in einem Schwall kalter Luft, die nach Winter und Kaminrauch roch, taperte ein verhutzeltes Weiblein in Witwenschwarz herein, halb auf ihren Stock gestützt, halb auf den Arm eines jungen Mädchens.
Thilo murmelte einen kaum hörbaren Gruß. Einmal mehr fragte er sich, warum es ausgerechnet die alten Leute waren, die es nicht abwarten konnten, bis sie morgens ihr Geschäft öffneten, dabei hatten diese von allen doch am meisten Zeit.
»Moin, Frau Westede!«, rief Christian munter von der Leiter herab.
Er mochte den Umgang mit Kunden, es fiel ihm leicht, mit Komplimenten und guten Argumenten ein Pfund Mehl mehr zu verkaufen, eine Speckseite zusätzlich.
Besonders bei hübschen Mädchen.
»Moin, Levke.«
Levke Reinders, rehäugig und apfelbäckig, schloss die Tür hinter sich und ihrer Urgroßmutter und lächelte unter der breiten Krempe ihres Huts zu Christian hinauf.
»Moin, Christian.«
»Na, ihr Lütten«, krächzte die alte Frau den Brüdern entgegen, was sogar Thilo ein Schmunzeln entlockte.
Für die Wittfrau Westede würden sie immer die blonden Bengel bleiben, die auf dem Kai vor dem Laden herumgetollt und ihr manchmal die Einkäufe nach Hause getragen hatten. Obwohl der schlanke Christian sie mittlerweile um mehrere Köpfe überragte und Thilo zu einem solchen Hünen herangewachsen war wie der Vater der jungen Männer in seinen besten Jahren.
Damals, unter Napoleon, hatte die Witwe Westede angeblich die französischen Soldaten verjagt, die sie an jenem bitterkalten Weihnachtstag aus ihrem Haus holen wollten, um sie wie Tausende andere Hamburger aus der belagerten Stadt zu vertreiben. Mit einem glühenden Schürhaken hätte sie ihre vier Wände verteidigt, mit dem Säbel ihres verstorbenen Mannes oder indem sie den Nachttopf über ihren Köpfen ausgoss – darin waren die Erzählungen uneins.
Die alte Frau lachte nur mit ihrem zahnlosen Greisenmund, wenn die Rede darauf kam, und drohte scherzhaft mit dem verkrüppelten Zeigefinger; dass sie sich, damals schon betagt, derart wehrhaft gezeigt hatte, daran zweifelte jedoch niemand im ganzen Grasbrook.