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»Wenn wir mit Zwirn und Rosinen zu wenig verdienen«, erklärte Christian, während er in konzentrierten Schwüngen den Besen aus dem engen Raum hinausführte, in den Laden hinüber, »als dass es für ein gutes Leben reicht, sollten wir uns überlegen, ob …«

Die Regale, Kisten und Fässer im Laden dämpften seinen Wortfluss zu einem unverständlichen Gemurmel, schließlich verschluckte das energische Scheppern der Türglocke Christians Stimme völlig.

Seufzend griff sich Thilo die Jacke von der Stuhllehne und folgte seinem Bruder nach draußen.

Kähne dümpelten im Wasser des Binnenhafens, und Arbeiter hievten Säcke auf den Kai. Zwei Frauen, warm in ihre Schultertücher eingeschlagen, standen zum Klönen zusammen, und eine Horde abgerissener kleiner Jungen rannte johlend an ihnen vorüber, bevor sie sich einer nach dem anderen in einen engen Durchlass zwischen den Häusern fädelten.

»Wir könnten uns spezialisieren«, schlug Christian vor, während er den pudrigen Neuschnee vor dem Laden zusammenfegte. »Moin, Frau Hansen.«

Die hagere Frau, das Gesicht unter der Haube von Gram zerfurcht, nickte grüßend.

»Schau dir doch an, bei wem am meisten los ist. Wer die guten Geschäfte macht.«

Christian hielt inne und deutete den Kehrwieder hinauf und hinunter.

»Diejenigen, die ein ganz klar umrissenes Sortiment anbieten. Anstatt von allem etwas wie wir in unserem Krämerladen.«

Sowohl vor dem Kolonialwarenladen als auch beim Bäcker herrschte reges Kommen und Gehen. Während Christian weiter mit dem Besen Schneehäufchen zusammenschob, dachte Thilo darüber nach, ob es sich unter dem Strich wirklich mehr lohnte, mit Tabak, Reis und Tee zu handeln, mit Safran und Muskat, mit Brot und Kuchen und Hörnchen.

»Moin, Christian«, riefen zwei Mädchen wie aus einem Mund, einander auch zum Verwechseln ähnlich mit ihren frischen Gesichtern, dem hellen Haar, den hellen Augen.

»Moin, Clara«, grüßte Christian zurück. »Moin, Emilie.«

Sein Augenzwinkern, das der einen, der anderen oder beiden zugleich gelten mochte, ließ die Schwestern Bekedorp strahlen, während sie leichtfüßig weitergingen und dabei den vollgepackten Korb zwischen sich schwenkten.

Lediglich in seinem Hemd, schien Christian die Kälte nicht zu spüren, die ihren Atem zu Nebelschwaden formte. Als ob er mit jedem Besenschwung überschüssige Energie verbrannte; kein Wunder, dass er nur aus Sehnen und schlanken Muskelsträngen bestand.

Thilo zog die Jacke enger um sich und verschränkte die Arme.

»Was ist falsch an Mehl und Erbsen?«

Christian lachte auf, ein weiches, warmherziges Lachen.

»Nichts, Thilo. Außer, dass die Leute das überall kaufen können und auch woanders hingehen, sobald du mehr dafür haben willst oder ihnen deine Nase nicht mehr gefällt. Spätestens wenn ein neuer Laden aufmacht, der näher an ihrer Wohnung liegt.«

»Was schwebt dir stattdessen vor?«

Christian zuckte mit einer Schulter. »Am besten etwas, das sonst keiner hat.«

»Und was soll das sein?«

Christian richtete sich auf und stützte sich auf den Besenstiel.

»Letzten Endes ist es vielleicht nicht einmal besonders wichtig, was wir verkaufen wollen. Sondern, wie wir es tun. Indem wir für unsere Ware den passenden Markt ins Auge fassen. Und wenn die Nachfrage noch nicht da ist, dann schaffen wir eben eine, mit zündenden Argumenten. Das ist alles nur eine Frage der Strategie.«

Sein Blick fiel auf die Eiszapfen, die sich am Ladenschild über ihren Köpfen gebildet hatten. Er ließ den Besen fallen und sprang hoch, um einen davon abzubrechen und mit einem übermütigen Funkeln in den Augen seinem Bruder hinzuhalten.

»Wenn du es schlau genug anstellst, kannst du bestimmt auch Eiszapfen an Eskimos verkaufen.«

Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte Grischa durch die Straßen.

Über den Herbst war er schon ein paarmal in Hamburg gewesen, allerdings immer nur für wenige Stunden. Das erste Mal gleich nach der diesjährigen Walsaison, auf einem Frachter, der Holz aus den norwegischen Wäldern für Hamburg geladen hatte. Noch ehe der Laderaum komplett leer gewesen war, hatte er auf einem friesischen Fischkutter angeheuert, dessen Maat irgendwo in den Schänken der Stadt verschüttgegangen war.

Kapitän Friedrichs, der Pfeifenstiel wie zwischen seinen Lippen verwachsen, hatte dann gefragt, ob Grischa weiter für ihn fahren wollte, und Grischa war mit seinem Seesack in Friesland geblieben.

Viel Geld war mit diesen Pendelfahrten zwischen den Inseln und Hamburg nicht zu machen, weniger sogar als mit den Winterfellen der Polarfüchse Spitzbergens, aber Grischa mochte die Arbeit unter den Fischern. Den wortkargen Menschenschlag, der lieber handelte, als zu reden, und dessen Warmherzigkeit erst nach und nach hinter stoischer Brummigkeit zum Vorschein kam.

Grischa gefiel es auf den sandigen und windumtosten Inseln, die das Wasser eher zufällig zu verschonen schien, wenn es sich bei Flut schnaufend und prustend zusammenzog. Vielleicht fühlte er sich dort wohl, weil es Wolfs Heimat war; eine wohlige Nostalgie, die jedoch nicht so weit reichte, ihn auf Sylt aufzusuchen.

Ein guter Grund, um eine Weile dortzubleiben, war sicher auch Hauke, der an jenem Abend im Dorfkrug nur auf Grischa gewartet zu haben schien. Schweigsam selbst für einen Friesen, lang und dünn wie eine Pappel und genauso flaumbedeckt, war der Bootsbauer unter vier Augen so rau wie das Meer seiner Heimat.

Mit dem Winter kroch jedoch eine Unrast unter Grischas Haut, die ihn schließlich von Haukes reetgedeckter Kate fortlockte. Für ein paar Tage, ein paar Wochen, das wusste er selbst noch nicht.

Dieses Mal nahm er sich Zeit für Hamburg, und was er bisher von der Stadt gesehen hatte, gefiel ihm, auch wenn noch immer zu erkennen war, wie sehr sie im Krieg gelitten hatte.

Eine Stadt des Wassers wie Venedig, hatten Seeleute ihm erzählt, und obwohl sie Venedig genauso wenig mit eigenen Augen gesehen hatten wie Grischa, begann er zu ahnen, was sie damit gemeint hatten. Zwischen Alster und Elbe, von einem Netz aus Fleeten miteinander verbunden, schien auch Hamburg eine schwimmende Stadt zu sein, eine Stadt der Brücken.

Ein Riese war Hamburg, von einer Armee aus Ratten mit Zähnen und Klauen attackiert und zu Fall gebracht, der sich nur langsam wieder aufrappelte. Mit tiefen Wunden, dem einen oder anderen gebrochenen Knochen, der nicht recht heilen wollte, aber von unbezwingbarem Willen.

Es war der Wind, der Grischa am meisten für Hamburg einnahm. Aus Nord und Süd, Ost und West schienen die Brisen zu kommen, die sich hier kreuzten, am Mittelpunkt eines Himmelskompasses. Und doch war es immer unzweifelhaft ein Meereswind, unberechenbar und turbulent. Ein Wind, der Veränderung in sich trug, etwas Neues versprach.

Seine Unruhe mochte auch damit zusammenhängen, dass seine Flucht aus der Leibeigenschaft fünf Jahre her war. Seit dem Frühling konnte er sogar wieder russische Häfen anlaufen, ohne die Krallen des Gesetzes fürchten zu müssen. Jetzt, mit achtzehn Jahren, war er wirklich frei, jetzt stand ihm die ganze Welt offen.

Dafür war er nach Hamburg gekommen. Um durch die Stadt und ihren Hafen zu streifen und Ausschau nach einer lohnenden Arbeit zu halten. Nach einem guten Geschäft, das nur auf ihn wartete.

Sein Blick traf sich mit den blau strahlenden Blicken zweier Mädchen, goldene Haarflechten unter ihren Hauben, die Gesichter von samtiger Jugend.

Hamburg hatte wirklich die hübschesten Mädchen. So viele davon, dass sogar eine ganze Straße nach ihnen benannt war, der Jungfernstieg.

Nach den langen Monaten auf See, nach Hauke, hatte er für den Moment genug von harten Muskeln, harten Schwänzen, er sehnte sich nach weichen Rundungen. Nach der Anschmiegsamkeit einer Frau, deren Schoß ein solches Geheimnis barg.

Grischa lächelte und deutete eine Verbeugung an. Die Wangen der Mädchen röteten sich, hin- und hergerissen zwischen dem, was sich schickte, und der Aufmerksamkeit des fremden Burschen.

Ein Kichern perlte zwischen ihnen auf.

»Wenn du es schlau genug anstellst, kannst du bestimmt auch Eiszapfen an Eskimos verkaufen.«