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Die Mädchen waren vergessen.

In diesem einen Augenblick ergab alles einen Sinn.

Katyas sture Beharrlichkeit, mit der sie ihm ein ums andere Mal auseinandersetzte, dass mit Eis Geld zu machen sei, viel Geld. Das Gerede, das unter Seeleuten umging, von einem verrückten Amerikaner, der Eis unter Palmen verkaufen wollte, sogar durch Bankrott und Schuldgefängnis nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Gedanken, die nicht aufhörten, an ihm zu nagen, obwohl er sie immer wieder als unsinnig abgetan und beiseitegeschoben hatte.

In Friesland war er oft über den Strand hinausgewandert, bei Ebbe, wenn das Watt trockenfiel. Sobald die Grenze zwischen Land und Meer verschwamm und sich auflöste, schien es, als würde weit hinten am Horizont etwas auf ihn warten, das sich jedoch nie zu erkennen gab.

Jetzt konnte er es sehen, in Gestalt zweier junger Männer vor einem Laden, von denen der eine skeptisch den Eiszapfen in der Hand des anderen betrachtete.

»Die Eskimos brauchen kein Eis«, sagte Grischa, als er zu den beiden trat. »Davon haben sie selbst genug. Aber in anderen Teilen der Welt, die keine Winter kennen, lässt es sich verkaufen.«

Zwei Augenpaare musterten ihn, die sich in ihrer schmalen Form verblüffend glichen; damit hatte sich die Ähnlichkeit zwischen ihnen aber auch schon erschöpft.

Fast einen Kopf kleiner als Grischa, war der eine sehnig und spürbar energiegeladen, sein Gesicht mit der markanten Nase kühn, fast verwegen. Die durchdringenden blauen Augen darin blitzten belustigt; einer dieser Burschen, die bei Frauen leichtes Spiel hatten und mit anderen Männern schnell gut Freund waren. Niemand, den man zum Feind wollte; in seinen Zügen lag eine Schärfe, an der man sich den Finger ritzen konnte.

Der andere war genauso groß gewachsen wie Grischa, vielleicht noch eine Spur größer, aber schlanker gebaut. Trotzdem immer noch beeindruckend breitschultrig, hielt er sich mit der Kraft starker Muskeln aufrecht. Gegen das Dunkelblond seines Bruders wirkte sein Haar ausgeblichen, fast weiß, die Brauen und Wimpern wie Eiskristalle über den kühlgrauen Augen.

Wie aus hellem, glattem Stein geschaffen sah er aus. Ein Stein, der sich unter der Hand warm anfühlen mochte und so weich war, dass sein Schöpfer mühelos und präzise ein eckiges Kinn hatte herausschneiden können, eine kantige Wangenlinie; ein markiges Profil von absoluter Vollkommenheit.

Grischa konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, während die feine Röte, die in das Gesicht des jungen Mannes kroch, verriet, dass er sehr wohl aus Fleisch und Blut war.

Grischa riss sich zusammen und streckte ihm die Rechte entgegen. »Grischa.«

Christian gefiel Grischas zupackende Zielstrebigkeit, die seiner eigenen glich, auf Anhieb. Während Thilo noch zögerte, ergriff er stattdessen die ausgestreckte Hand.

»Christian Petersen. Mein Bruder Thilo.«

Thilo wusste nicht recht, was er von diesem draufgängerischen Burschen halten sollte, der sich ungefragt und besserwisserisch in ihr Gespräch eingemischt hatte. In einem Deutsch, das tief aus seiner Kehle kam, mit teils russischem, teils skandinavischem Akzent rollte und rumpelte.

Er mochte siebzehn Jahre alt sein oder siebenundzwanzig, genauer ließ sich das Adlergesicht nicht einordnen, mit dem schief stehenden Zahn gleichermaßen wild und jungenhaft. Seine Haut war sogar jetzt, im Winter, leicht gebräunt, vielleicht hatte er auch von Natur aus eine kräftigere Hautfarbe zu seinen dunklen Augen, dem dunklen Haar.

Seine zweireihige Jacke aus schwerem dunklem Wollstoff war die der Seeleute und der Marine, aber der Bart, der Mund und Kinn umschloss, war nicht der eines Seebären, sondern kurz getrimmt und gepflegt. Und in seinen sichtlich teuren Stiefeln konnte man sich spiegeln.

Diesen Grischa konnte er nicht recht greifen, daran störte sich Thilo.

»Bei uns in Deutschland stellt man sich mit dem Nachnamen vor«, hörte er sich selbst sagen.

Grischa zog eine Braue hoch. Unerträglich arrogant wirkte Thilo Petersen, und doch flackerte es dabei unsicher in seinen grauen Augen. Als ob er nicht wüsste, was für ein schöner Mann er war, oder sich sogar dafür schämte.

»Grigori Jakovlewitsch Voronin«, leierte Grischa herunter. »Achtzehn Jahre alt. Ursprünglich vom Ladogasee im russischen Karelien. Inzwischen in Tromsø, Norwegen, mehr oder weniger sesshaft. Seit zwei Tagen in Hamburg, im Gasthaus Schwarzer Elefant.«

Thilo wusste, wann man sich über ihn lustig machte. Und auch, wann er es sich selbst zuzuschreiben hatte. Bis unter die Haarwurzeln lief er rot an, während er weiterhin stur Grischas Hand ignorierte.

Lachend warf Christian den Rest des schmelzenden Eiszapfens weg und hob den Besen vom Boden auf; frische Schneeflocken schwebten durch die Luft.

»Willst du auf einen Kaffee reinkommen?«

18

Geradlinig und unverstellt, das war Grischas erster Eindruck von den beiden.

Ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als er ihnen in der Kammer hinter dem Laden von den Inuit auf Grönland erzählte, vom Walfang und norwegischen Inseln und Fjorden und von den Pelztierjägern im endlosen Winter auf Spitzbergen.

Der Laden wurde offensichtlich gut geführt, war aber keine Goldgrube. Nicht verwunderlich in dieser Stadt, die so viele ärmliche Ecken hatte.

Dummköpfe schienen sie beide nicht zu sein. Christian war eindeutig offener, während Thilo zurückhaltend blieb, fast misstrauisch; Grischa fühlte sich deutlich von ihm unter die Lupe genommen. Trotzdem glomm es auch in seinen Augen neugierig auf, und hinter der soliden, fast biederen Fassade der Brüder spürte Grischa den gleichen Hunger nach mehr vom Leben, der auch ihn umtrieb.

Und so lenkte er geschickt das Gespräch zurück auf das Eis für wärmere Breitengrade.

Hinter den Geschäftsbüchern verschanzt, beobachtete Thilo, wie Christian, der lässig auf der Tischkante saß, jedes Wort von Grischa aufsaugte. Wie mühelos er mit dem Russen Freundschaft zu schließen schien, nur über einem Kaffee hier im winzigen Hinterzimmer, versetzte Thilo einen Stich.

Und wie sein Bruder, immer schon leichtherzig und optimistisch, derart schnell auf diese verrückte Idee mit dem Eis ansprang, beunruhigte ihn.

»Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe«, polterte Thilo schließlich mitten in einen Satz Christians hinein.

Grischa, der an der Wand lehnte, schmunzelte hinter seiner Tasse.

»Du glaubst nicht, wie oft ich das selbst schon gesagt habe. Und viel öfter noch gedacht. Aber je länger es mir durch den Kopf geht, umso klarer sehe ich es vor mir.«

»Wo willst du das Eis dafür hernehmen?«, wollte Thilo wissen.

»Aus Norwegen«, antwortete Grischa zwischen zwei Schlucken. »Jede Menge Seen, die im Winter zufrieren. Gletscher, aus denen man sogar im Sommer Eis schlagen könnte. Der Transportweg in den Süden wäre auch kürzer und weniger gefährlich als von Grönland oder Spitzbergen aus. Dort sind die Wasserwege die längste Zeit des Jahres vereist und können auch im Sommer böse Überraschungen bereithalten.«

Thilo blieb skeptisch. »Aber das Eis gehört doch sicher irgendwem?«

»Wem gehört das Wasser eurer Elbe und eurer Alster? Das Wasser dort draußen im Meer?«

Thilo lehnte sich zurück.

»Das Wasser der Alster gehört auf jeden Fall der Stadt Hamburg«, argumentierte er mit einer gewissen Zufriedenheit.

Grischa ließ sich nicht beirren.

»Was glaubst du, was irgendjemand in einer gottverlassenen Gegend in Norwegen für das Eis aus seinem See bezahlt haben will?«

Einige Herzschläge lang musterten sie einander aus zusammengekniffenen Augen, dann senkte Thilo den Blick. Während er auf der Unterlippe kaute, notierte er mit Bleistift Zahlen auf ein Stück Papier und strich alles wieder durch.

Es klang so einfach. Eis, von der Natur praktisch geschenkt, als Handelsgut. Die Transportkosten wären sicher nicht höher als bei anderen leicht verderblichen Waren auch, und selbst wenn man das Eis billig verkaufte, ergäbe sich rein rechnerisch eine Gewinnspanne, nach der sämtliche Händler sich die Finger lecken würden.