»Hast du sonst noch Familie?«
Vorsichtig fragte Thilo es, fast argwöhnisch. Als müsste er fürchten, mit Grischa fiele eine ganze Horde Russen ins Haus ein; ein zweiter Kosakenwinter.
Grischa entfernte sich wieder von ihm, um den rostigen Ofen zu untersuchen, und schüttelte den Kopf.
»Unsere Mutter ist gestorben, da war Katya gerade geboren. Wir haben noch einen Vater und Brüder in Russland. Sie waren …«
Einige Herzschläge lang starrte er ins Halbdunkel, dann zuckte er die Schultern wie entschuldigend.
»Ich kann nicht sagen, dass sie schlechte Menschen waren, aber ich habe keinen davon in guter Erinnerung. Wahrscheinlich spricht es auch nicht gerade für mich, dass ich sie nicht vermisse. Aber so ist es nun einmal.«
Entschlossen klappte er die Ofentür zu und richtete sich auf.
»Was ist mit euch?«
Das aufrichtige Interesse in Grischas Blick ließ Thilo keinen Spielraum, drum herumzureden.
»Wir haben auch unsere Mutter verloren. Typhus. Zusammen mit unserer Schwester. In der Franzosenzeit. Unser Vater ist seither Invalide.«
Er war dankbar, dass Grischa auf irgendwelche Beileidsworte verzichtete. Der warme Schimmer in seinen Augen genügte jedoch. Thilo verschränkte die Arme fester vor der Brust.
»Denkst du manchmal noch an Russland?«, fuhr er eilig fort, um von sich selbst abzulenken.
Grischa verzog das Gesicht.
»So gut wie nie. Russland ist dort, wo ich zufällig zur Welt gekommen bin. Was mich in meinen ersten dreizehn Jahren geformt hat. Vermutlich wird man immer hören, dass ich von dort herkomme. Aber seit ich fort bin, habe ich meinen Blick nur nach vorn gerichtet.«
Thilos Blick glitt über seine Schulter auf Hamburg hinaus. Trotz aller Gedanken an eine Auswanderung wusste er sich hier tief verwurzelt, während Grischa sich jetzt schon zwischen den Wänden der verlassenen Wohnung so mühelos ein neues Leben einrichtete, wie man in ein Paar neuer Schuhe stieg.
Vielleicht war es das, was Grischa eine solche Reife verlieh; Thilo wusste nicht, ob er ihn dafür beneiden oder vielmehr bedauern sollte.
Grischa pochte gegen einen der Balken.
»Was wollt ihr dafür?«
Wie Thilo Christian kannte, hätte dieser Grischa die Wohnung bestimmt umsonst überlassen; so weit wollte Thilo nicht gehen.
»Fünf Mark. Die Woche.«
Mehr ein symbolischer Betrag, mit dem sicher auch sein Bruder einverstanden war.
»Feuerholz ist extra«, fügte er hastig hinzu.
Grischa lachte auf.
»Ich weiß zwar nicht genau, ob das viel oder wenig ist, aber es ist auf jeden Fall billiger, als weiter im Gasthaus zu übernachten.«
Während er in einem der Zimmer verschwand und dort Möbel verschob, wandte Thilo sich um und sah in die Dämmerung hinaus, in der die ersten Lichter aufglommen.
Mit Grischa und seiner Schwester würde ein frischer Wind in das Haus am Kehrwieder einziehen, das war jetzt schon spürbar.
Thilo war nur nicht sicher, ob diese Luftveränderung Gutes bedeuten würde.
19
Das Bett neben dem Tisch war abgezogen, das Fenster mit Blick auf die Berge und den Sund geputzt, der Boden frisch gewischt und der Schrank leer. Ein letztes Mal ließ Katya den Blick durch die Kammer schweifen; nach ihr würde vielleicht ein anderes Mädchen einziehen.
Silja Guðmundsdóttirs Schritte holten sie aus ihren Gedanken.
»Hast du alles?«
Katya nickte. Alles, was sie besaß, hatte in der Reisetasche aus besticktem Segeltuch Platz gefunden, und doch verließ sie Tromsø ungleich reicher, als sie hier angekommen war, fünfeinhalb Jahre war das jetzt her.
»Grischa«, begann sie, kam jedoch nicht weiter; wie konnte sie im Namen ihres Bruders sprechen, wenn ihr selbst die Worte für einen Abschied fehlten.
Silja Guðmundsdóttir schüttelte den Kopf.
Es war besser so, dass sie einander nicht wiedergesehen hatten. Nachdem Grischa sie noch einmal lange geküsst hatte, an jenem Spätsommermorgen, bevor er sich aus dem Bett schälte und zu seiner nächsten Fahrt aufbrach.
Von der er nicht zurückkehren würde, wie Silja nun wusste; jetzt hatte er Hamburg zu seinem Ankerplatz gemacht.
Dass es kein Lebewohl gab, ersparte ihr die Peinlichkeit, womöglich doch noch sentimental zu werden. Sich an ihn zu klammern und ihm einen Liebesschwur abzuringen, den er nicht ehrlich meinte. Ihn an eine Kette aus Schuldgefühl und falscher Dankbarkeit zu legen.
Grischa hatte ihr mehr gegeben, als er jemals wissen würde.
Sie zürnte ihm nur, dass er nach Katya geschickt hatte wie nach einem vergessenen Koffer oder einem Sack Kartoffeln, anstatt sie abzuholen.
Zum Glück hatte Ingmar Einarsson sein Wort gegeben, auf das Mädchen aufzupassen, als hätte er eine seiner eigenen Töchter an Bord, während er Klippfisch nach Hamburg fuhr, um von dort eine Ladung Tuch und Zucker und Getreide mitzubringen. Einem weniger erfahrenen Kapitän hätte sie Katya auch nicht anvertraut. Zum Ende des langen Winters hin lag der Schnee auf den Bergen noch hoch, waren die Wasser rau.
»Ich schreibe Ihnen, sobald ich in Hamburg angekommen bin, Fru Guðmundsdóttir.«
Trotz ihrer vor Reisefieber glänzenden Augen rang auch Katya innerlich mit widerstreitenden Gefühlen.
Manchmal vergaß Silja, dass es nicht ihr Leib gewesen war, der dieses Mädchen hervorgebracht hatte. In diesem Augenblick wollte sie auch nicht daran erinnert werden, obwohl es den Abschied leichter gemacht hätte.
Bevor es nachher, im Trubel an der Mole, keine Gelegenheit mehr dazu geben würde, nahm sie Katyas Gesicht zwischen beide Hände.
Wie in einer Glaskugel hoffte sie, herauslesen zu können, dass Katyas neues Leben in Hamburg ein glückliches sein würde. Ihre Schönheit sollte ihr immer Segen sein, nie ein Fluch, und ihr starker Wille, ihr wacher Kopf mochten sie davor bewahren, jemals wieder Mangel und Not zu erleben.
»Du wirst hier immer ein Zuhause haben, mein Kind.«
Behutsam küsste sie Katya auf die Stirn. Als könnte sie damit ein Glück bringendes Zeichen hinterlassen, das Katya vor allem Übel und Leid beschützte.
Die Männer auf der Thor begegneten Katya mit freundlicher Distanz, Ingmar Einarsson selbst auf eine Art, die Katya instinktiv als väterlich erkannte; zumindest stellte sie sich so einen guten Vater vor.
Nach ihren Erfahrungen im Hafen von Sankt Petersburg und auf der Fahrt durch das Nordmeer damals brachte sie dieses Verhalten ins Grübeln; sie fragte sich, ob sie nur dann Höflichkeit und Respekt erwarten konnte, wenn sie unter dem Schutz eines Mannes stand, der das Sagen hatte.
Ihr Kämmerchen weit unten im Bauch des Schiffs war eng und dunkel und stank nach Fisch, aber sie hatte es ganz für sich. Zu spät dämmerte ihr, dass Ingmar Einarsson es ihr vielleicht nicht aus reiner Gefälligkeit überlassen, sondern dass Fru Guðmundsdóttir dafür bezahlt hatte.
Tromsø lag da schon weit hinter ihnen.
Das war der Moment, in dem Katya begriff, dass sie tatsächlich dabei war, sich mit Grischa in Hamburg ein eigenes Leben aufzubauen.
Jetzt konnte sie diesem schmerzhaften Ziehen einen Namen geben. In der dänischen Sprache, die ihre geworden war. Hjemve . Jetzt konnte sie dieses Gefühl verorten. Sie vermisste Tromsø jetzt schon, die Meeresbrise zwischen den bunten Holzhäusern. Die sumpfigen Wiesen oben am Hang und den leicht bitteren, säuerlichen Geschmack von Multbeeren. Jetzt schon sehnte sie sich zurück in ihre Kammer oben unter dem Dach, in die Küche, in der Silja Guðmundsdóttir Brot buk und in einem Eintopf rührte.
Nach Silja Guðmundsdóttir selbst, die ihr eine Ahnung davon vermittelt hatte, wie es sein musste, eine Mutter zu haben.
Die Küste Norwegens jeden Tag vorbeiziehen zu sehen machte es nur schwerer. Ein Land von wilder und schroffer Schönheit. Seit Ewigkeiten daran gewöhnt, vom Wind und den Gezeiten zurechtgehämmert und abgeschliffen zu werden und ihnen trotzdem standzuhalten.