Fjorde entfalteten sich vor Katya und schlossen sich wieder, von denen jeder zwischen seinen Steilwänden den Anschein erweckte, ein Geheimnis zu wahren, unter seinen spiegelnden und schillernden Wassern.
Und fortwährend schienen die schneebedeckten Gipfel nach ihr zu rufen, die aufbrechenden Eisflächen. Dieser gezackte Saum der weißen und kalten Weiten dahinter, durch die Johann Silberberg in diesen Monaten wanderte, zwischen Gletschern und gefrorenen Seen.
»Bald«, flüsterte Katya.
Die Kappe aus weißem Polarfuchs hatte sie tief ins Gesicht gezogen, und die mal weiß, mal silbrig schimmernde Jacke aus Seehundfell, die Grischa ihr letztes Mal aus Grönland mitgebracht hatte, schützte sie vor dem beißenden Wind.
»Bald komme ich zu euch.«
Grischa hatte es versprochen, in einem seiner Briefe, in seiner Handschrift, die ungelenk blieb, immer ungeduldig wirkte.
Unterschätze nicht die Macht der Umwege, Katya, hatte Johann Silberberg ihr geschrieben. Nicht immer ist der gerade, der kürzeste Weg der beste. Es sind die Umwege, die einen auf das Ziel vorbereiten. Und dorthin bringen sie einen genauso gut.
Katya konnte nur hoffen, dass dem auch wirklich so war.
Fast ein halbes Jahr hatte sie ihren Bruder nicht mehr gesehen. Es war der Gedanke an ihn, der nach und nach ihr Heimweh zu verzehren begann. Die Neugierde auf seine neu gewonnenen Freunde und auf Hamburg, das ihre künftige Heimat sein würde.
Jeden Tag, den sie auf See war, ein bisschen mehr.
Bis von ihrer traurig eingefärbten Sehnsucht nach dem, was sie in Norwegen zurückgelassen hatte, nicht mehr übrig war als ein Rest harschiger Schnee in der Frühlingssonne.
Eine rastlos schäumende Nordsee und ein kräftiger Wind brachten die Thor in acht Tagen nach Hamburg; einen Tag früher als erwartet setzte Katya den Fuß wieder auf festen Boden.
Der weitläufige und geschäftige Hafen beeindruckte sie, so viel größer als die kleine Mole in Tromsø, sogar größer, als sie den Hafen von Sankt Petersburg in Erinnerung hatte.
Trotz des kräftigen Windes, der an Katyas Röcken zerrte und den Pelz ihrer Kappe zerzauste, war es wärmer als in Tromsø. Obwohl noch Schnee lag, schien der Frühling schon seine Fühler auszustrecken.
Katya hatte noch nie solch schmutzigen Schnee gesehen. Sie bückte sich nach einer Handvoll und rieb mit dem Daumen darüber. Schwerer, nasser Schnee war es; wie ein Schwamm hatte er sich mit grauem Dunst vollgesogen, mit schwarzem Staub. Ein trauriger Schnee, wie von Mühsal und schleppenden Schritten beschwert.
Katya hob den Kopf. Über dem Häusermeer vor ihr stiegen unzählige Rauchfähnchen in den schiefergrauen Märzhimmel auf; es waren die Menschen der Stadt, die mit ihren Öfen und Herdfeuern den Schnee trostlos färbten.
Katyas Eile, ihr neues Zuhause kennenzulernen, war vergessen; sie hielt Ausschau nach Eis, das sich noch an den Winter klammern mochte. Hamburger Eis.
In einem Winkel des Kais, vor den Strahlen der Sonne versteckt, wurde Katya fündig. Sie kniete sich hin und reckte sich weit vor, um den übriggebliebenen Eisklumpen zu erreichen, der an der Kaimauer klebte wie eine Muschelschale an einer Klippe. Die neugierigen bis belustigten Blicke der Hafenarbeiter und Seeleute, ihre neckenden Zurufe prallten an ihr ab; sie war ganz auf das Eis konzentriert, das sich fügsam ablösen ließ, als hätte es nur auf Katya gewartet.
Milchig weißes Eis war es, so luftig, dass es unter Katyas Berührung knisterte und prickelte und in ihrer Hand sofort wieder zu dem fließendes Wasser wurde, das sein Ursprung war.
Katya lachte auf. Ein solch lebendiges Eis erschien ihr wie ein gutes Omen.
Eine sehr große Stadt war Hamburg, in der man sich leicht verlaufen konnte. Abgelenkt von den hohen Häusern und Straßen voller Menschen, musste Katya sich mehrmals neu orientieren, in einer Hand ihre Reisetasche, in der anderen Grischas Brief mit einer Skizze und Wegbeschreibung.
Auf der anderen Seite der Holzbrücke blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken. Noch nie hatte sie eine solche massive Häuserfront gesehen, so viele Fensterreihen, irgendwo dahinter würde sie jetzt wohnen.
Vergeblich suchte sie nach Gärten oder wenigstens einer kleinen Grasfläche. Sie hatte gehofft, ein paar Hennen halten zu können, wie früher in Russland, und sie fragte sich, wo sie künftig die Wäsche aufhängen sollte. Vielleicht gab es ja hinter diesen Häusern ein Gärtchen oder eine Wiese.
Entschlossen packte sie ihre Tasche fester und ging weiter, bis zu dem Haus mit der Aufschrift Gemischtwaren Petersen.
Über ihrem Kopf bimmelte es, als sie die Tür öffnete und behutsam wieder zumachte, und unwillkürlich schloss sie die Augen. Es roch so gut, ein herrliches Durcheinander von süß, würzig, scharf, sauer, krautig.
»Moin, gnädiges Fräulein. Kann ich helfen?«
Mehr fiel Christian oben auf der Leiter nicht mehr ein, als sich das Mädchen umdrehte und zu ihm heraufsah.
Ein Geschöpf wie aus einem Märchen, das Gesicht unter der Pelzkappe wie feinstes Bone China und von genauso elegant geschwungenen Linien, die Zöpfe schwarz und glänzend wie Rabenfedern. Ihre Augen tiefe Seen, in denen man sich verlieren konnte.
Als ob sie sich nur kurz ihre Menschengestalt übergestreift hätte, bevor sie sich erneut verwandeln würde. In einen Fuchs, einen Schwan, sobald Christian blinzelte oder auch nur wieder Luft holte.
Christian hatte Trine, Liese, Frieda und Trude geküsst, Jule, Grete, Berta und Marga. Levke Reinders und sogar Clara, die ältere der Schwestern Bekedorp. Mädchen, mit denen er schon als Junge auf dem Kai und hinten auf den Treppen gespielt hatte oder die er beinahe sein halbes Leben kannte.
Eine Vertrautheit, die etwas aufregend Neues bekam, als bei einer nach der anderen fast über Nacht weibliche Formen hervorbrachen. Und in einem der dunklen Gänge des Hinterhauses hatte Thea Hansen ihn nicht nur in den Ausschnitt fassen lassen, sondern auch unter ihre Röcke und ihm, ihre Hand in seiner Hose, einige überwältigende Augenblicke beschert.
Das hier war etwas anderes. Etwas Frisches, Klares, Reines brachte dieses Mädchen mit, das Christians Magen flattern und ihn in den Knien weich werden ließ. Herrlich und beängstigend zugleich.
Christian Petersen, sonst so gewandt darin, zu locken, zu schmeicheln, zu werben und zu verführen, brachte kein Wort mehr heraus.
Auch Katyas wohlüberlegte deutsche Sätze, mit denen sie sich hatte vorstellen wollen, hatten sich in Luft aufgelöst.
Das Gesicht des jungen Mannes auf der Leiter war kein zahmes. Mit seinen scharfen Kanten und Winkeln erinnerte es sie an die Küste Norwegens, und die schmalen blauen Augen darin glänzten wie das Wasser eines Fjords. Vielleicht hatte Johann Silberberg dieses Blau gemeint, wenn er von den Tiefen eines Gletschers im Sonnenlicht erzählte.
Umso wärmer wirkte das Lächeln, das auf diesem harten Gesicht aufzuckte, sich dann langsam darauf ausbreitete und es weicher machte, fast zärtlich. Katya witterte etwas, dem sie nicht gewachsen schien, dem sie besser aus dem Weg gehen sollte.
Es gelang ihr nicht. Dieses Lächeln hatte sie bereits umgarnt und eingefangen, sodass sie nicht anders konnte, als es zu erwidern, mit einem Herzen, das leicht und frei schlug.
An seinem Schreibtisch über Zahlenkolonnen gebeugt, horchte Thilo auf. Seit dem Klingeln der Glocke und Christians Begrüßung war es still im Laden. Eine merkwürdige Stille, die ihm unter die Haut kroch, und er ging nachsehen.
Stumm starrte sein Bruder von der Leiter herunter ein Mädchen in fremdländischer Kleidung an; eine Unhöflichkeit, die Christian eigentlich nicht ähnlich sah.
»Guten Tag?«, rief Thilo fragend in den Laden hinein.
Als das Mädchen den Kopf wandte, stutzte Thilo.
Etwas an ihrer Brauenpartie und der Zeichnung ihres Mundes erkannte er sofort. Eine zartere Version von Grischas Zügen, die Thilo eingehend studierte, wenn sie beim Abendbrot in der Wohnung der Petersens zusammensaßen. Wenn Grischa danach manchmal noch auf ein Glas blieb und mit seinen Erzählungen von Russland und der Seefahrt Arno Petersen für ein paar Stunden auf andere Gedanken brachte.