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Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, sie zu fragen, ob sie zum Abendbrot hinunterkommen wollte, wie er es bei Grischa getan hatte. Als ob er fürchtete, sein Bruder und sein Vater könnten Zeuge werden, wie er sich für ein junges Mädchen zum Narren machte.

Zum glücklichsten Narren der Welt.

Das erste Mal in seinem Leben war Christian Petersen verliebt, hoffnungslos, luftabschnürend, herzstolpernd verliebt.

Fast drei Wochen dauerte es, bis er den Mut fasste, Katya zu fragen, ob sie sich am Sonntag mit ihm zusammen Hamburg ansehen wollte. Der Frühling, der sich gerade in die Stadt drängte, gab ihm den notwendigen letzten Anstoß.

Katya wollte.

Christian konnte die Augen nicht von Katya lassen, in ihrem neuen blau karierten Kleid. Umrahmt von der Haube, die sie sich aus demselben Stoff genäht hatte, eine zierliche Schleife unter dem Kinn, schien ihr leuchtendes Gesicht sogar die dunklen Sträßchen auf dem Kehrwieder zu erhellen.

Er vermisste ihre prachtvollen Zöpfe, die unter dieser Haube verschwunden waren; andererseits konnte er sich so der Illusion hingeben, dass die Kluft an Jahren zwischen ihnen geschrumpft war wie durch Zauberhand. Vielleicht lag es auch daran, dass sie so schlank und hochgewachsen war wie eine Weide.

Ihre Ernsthaftigkeit tat ein Übriges, sodass er vergaß, wie jung sie noch war. An Katya war nichts Kokettes, Albernes, Schnatterndes, wie er es von anderen Mädchen kannte. Trotzdem lächelte sie viel, und ihr dunkles Lachen, das tief aus ihr herauszukommen schien, ließ jedes Mal etwas hinter Christians Brustbein vibrieren.

Er vergaß auch, was er ihr eigentlich von Hamburg hatte zeigen wollen. Christian ließ sich einfach treiben, kreuz und quer durch Straßen und über Brücken hinweg, in ständigem Wechsel zwischen Wasser und Land.

Auf dem Holländischen Brook, wo sich Lagerräume und Wohnungen in hohen Häusern zusammenzwängten und unter alten Bäumen Kähne auf dem Fleet dümpelten und am Backsteinbug von Sankt Katharinen vorbei. An den feineren Bürgerhäusern auf dem Wandrahm, vor der Kaserne, die einmal das Kornhaus gewesen war, und am Zippelhaus, hinter dessen Fachwerk die Gemüsehändlerinnen ihre Stände hatten. Um die zwergenhafte und von schiefen Häusern bedrängte Kapelle von Sankt Annen herum, die vor sich hin bröckelte und an deren längst aufgegebenem Armenfriedhof Christian sich noch aus seiner Kindheit erinnerte.

Christian schien einer inneren Route zu folgen, die einzig darauf ausgerichtet war, so viel Zeit wie möglich mit Katya zu verbringen. Inmitten des Geflechts von Fleeten und Schleusen und Hafenbecken fiel es ihm leicht, von sich zu erzählen und von früher.

In einem Hamburg zwischen Sonntagsruhe und Frühlingslaunigkeit schufen sie mit ihren Schritten einen Raum, der nur ihnen beiden gehörte.

Flanieren. Ein neues Wort für Katya. Offenbar taten das viele Hamburger an ihrem Sonntag, einzelne Herren mit Hut und Stock, untergehakte Paare, Grüppchen oder ganze Familien. Kinder tollten umher, stocherten im Wasser herum oder turnten am Brückengeländer. Bärtige und bemützte Männer hockten mit ihren Pfeifen am Rand der Fleete zusammen und führten einsilbige Gespräche, während ihre Frauen sich aus dem Fenster lehnten, den Busen bequem auf den überkreuzten Armen abgelegt, und sich gegenseitig den neuesten Tratsch zuriefen.

Auch Katya hatte inzwischen gelernt, ihre Wäsche an einer Leine unter dem Fenster zum Trocknen hinauszuhängen; die Fassaden Hamburgs, krumm und verwittert und düster verrußt, schienen unter ständiger Beflaggung von Kinderhosen, Männerhemden und Bettwäsche zu stehen.

Katya mochte die Sprache hier, die sich schnell in ihr Ohr geschlichen hatte. Anders als das zähe und behäbige Deutsch von Johann Silberberg aus Mainz war Hamburgisch weich und leicht und schwungvoll. Dem dänischen Zungenschlag nicht unähnlich, erinnerte es Katya an das Tschilpen von Spatzen, die auf- und absteigenden Melodien einer Amsel, manchmal mit einem spitzen Triller darin oder dem heiseren Ruf einer Möwe.

Kehrwedder. Hamburch. Denn man tau.

Ihre eigenen Worte kamen ihr dagegen klobig vor, wenn sie Christian von Russland und Norwegen erzählte. Immer wieder suchte sie fieberhaft nach einem bestimmten Ausdruck oder musste ausschweifend erklären, was sie meinte.

Christian schien es nicht zu stören, geduldig hörte er zu, legte nur ab und zu die Hand in ihren Rücken, um sie aus der Bahn eines Pferdefuhrwerks zu leiten; eine Geste, die eher fürsorglich und galant war als zudringlich und die doch jedes Mal ein Kribbeln ihr Rückgrat hinabrinnen ließ.

Das war etwas anderes, als sie für Johann Silberberg empfunden hatte; dass dies nicht mehr als die Schwärmerei einer Schülerin für ihren Lehrer gewesen war, hatte sie damals schon gewusst. Nichts, was jemals über ein paar Scherze und harmlose Komplimente hinausgehen würde. Über versponnene Tagträume von Liebesschwüren und gemeinsamen Wanderungen durch Landschaften von Schnee und Eis.

Christian berührte sie tiefer. Jedes Mal, wenn er mit einer Wurst, einer Speckseite vor ihrer Tür stand. Kein Almosen und auch kein Köder, das verrieten sein vorsichtiger Blick, sein scheues Lächeln.

Morgengaben waren es. Wie die eines Milans, der sein Nest mit Münzen und Silberlöffeln füllt, um zu beweisen, dass er klug und umsichtig genug ist, seine Feinde zu blenden und für seine Liebste zu sorgen.

Ein Pfund Kaffee, ein Kanten Käse und süße Plunderteilchen bedeuteten Katya ungleich mehr, als Blumen oder Bänder es getan hätten. Beide verstanden sie diese kleinen Gesten Christians gleich, weil sie beide Armut und Not kennengelernt hatten.

Leichthin und fast flapsig hatte er davon erzählt, darunter klangen jedoch die Sprünge und Brüche an, die jene Jahre bei ihm hinterlassen hatten; Katya fragte sich, ob sich damals diese Schärfe in sein Gesicht geritzt hatte.

Nach der Salzsiederei und der neu gebauten Dampfmühle öffneten sich die Häuserschluchten, fielen dann hinter ihnen zurück. Vor dem bewachsenen Wall eines Stadttors erstreckte sich das Grün, das Katya in Hamburg bislang vermisst hatte. Eine abschüssige Wiese am Wasser, die Sonntagsangler angelockt hatte und einen Hirten, der seine Ziegen grasen ließ. Hohe Bäume standen im ersten zarten Laub, dahinter schwankten die Schiffsmasten mit leerer Takelage in einem der Hafenbecken.

Unterwegs waren die Pausen zwischen ihren Sätzen immer länger geworden, jetzt schwiegen sie beide, während sie auf einer Bank nebeneinandersaßen und in die Sonne blinzelten. Die einzigen Stimmen waren die anderer Spaziergänger, die sich näherten und wieder entfernten, dann und wann meckerte eine der Ziegen zufrieden.

Die Wohlgerüche des Ladens hatte Christian in seinen Kleidern mitgebracht, geräucherter Speck und Kaffee und Bohnenkraut, und unter dem Duft einer herben Seife lag etwas wie junges grünes Holz, das Christian selbst sein musste.

Ein ums andere Mal trafen sich Katyas und Christians Blicke, tauschten sie ein Lächeln, bevor einer von beiden abrupt die Augen abwandte, um dann doch wieder zum anderen zurückzukehren.

Als Christian sich vorbeugte, streifte sein Ellbogen eine Beule in seiner Jackentasche.

»Das habe ich ganz vergessen«, sagte er und zog eine Papiertüte mit Bonbons heraus. »Die habe ich dir mitgebracht.«

Katya zögerte, sie wollte ihn nicht kränken.

»Du sollst mir nicht so viel schenken«, sagte sie dann dennoch leise.

»Das mache ich gern«, versicherte er hastig.

Katya lächelte. »Ich weiß. Trotzdem ist es zu viel.«

Christian starrte auf die Bonbons in seiner Hand und schluckte. Er konnte Katya das Gefühl nicht erklären, ihr sonst nicht viel bieten zu können. Mit hängendem Kopf steckte er Tüte wieder in die Jackentasche.

Katya holte tief Luft. »Ich mag dich auch so.«

Stumm blinzelte Christian vor sich hin, ein Ziehen irgendwo in seiner Brust, so schön, dass es beinahe wehtat.

Katyas Hand lag auf der Bank neben ihm. Christian streckte seinen kleinen Finger aus und fuhr sacht über den Katyas. Sie wich nicht zurück, lächelte nur in die Frühlingsluft hinein.