Nach und nach begann seine Hand, jeden ihrer Finger zu erobern. Zierliche Finger von erstaunlich zupackender Kraft waren es, die Kuppen von Nadelstichen vernarbt und raue Stellen in der Handfläche, die ihn erst richtig begreifen ließen, dass es dieses wunderbare Mädchen wirklich und wahrhaftig gab.
Katya war diejenige, die mit Herzklopfen den letzten, den großen Schritt wagte und ihre Hand schließlich ganz in seine schob, schlank und sehnig wie er selbst, und Christian schloss die Augen in einem Augenblick absoluten, vollkommenen Glücks.
In der Stube der Petersens breitete Thilo eine Decke über seinen Vater, der mit offenem Mund im Sessel eingeschlafen war. Sein Gesicht wirkte eingefallen; heute war ein weniger guter Tag gewesen. Die Kapriolen des Hamburger Wetters machten Arno Petersen immer wieder böse zu schaffen, gerade jetzt im Frühjahr.
Thilo warf einen Blick auf den gedeckten Tisch, Brotkorb und Butter, Wurst und Käse waren unberührt. Sie warteten immer noch auf Christian, dabei wusste er doch, wann sie Abendbrot aßen.
Er trat ans Fenster und spähte auf den Kehrwieder hinunter, ob er seinen Bruder irgendwo entdecken konnte, bei einem Schnack mit jemandem aus der Nachbarschaft oder mit einem Mädchen schäkernd.
Thilo wollte sich schon abwenden, als er stutzte und noch einmal genauer hinsah. Von der Brooksbrücke schlenderte Christian heran, Katya an seinem Arm.
Die leuchtenden Gesichter der beiden, ihre ineinander verhakten Blicke sprachen Bände. Auf eine Art, die Grischa bestimmt nicht im Sinn gehabt hatte, als er den Brüdern das Versprechen abnahm, ein Auge auf seine kleine Schwester zu haben, während er auf See war.
Christian hatte gerade die Wohnungstür aufgesperrt, als Thilo ihn packte und in das Zimmer zerrte, das die Brüder aus alter Gewohnheit miteinander teilten. Mit Nachdruck schloss er die Tür hinter sich.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, rief Thilo gedämpft, um ihren Vater nicht zu wecken. »Mit Grischas Schwester herumzupoussieren?«
»Wir waren nur spazieren«, verteidigte sich Christian lahm.
»Glaubst du, ich bekomme das nicht mit, wie oft du zu ihr hochgehst?«
Christian wich dem bohrenden Blick seines Bruders aus und schwieg verstockt.
»Was meinst du, was Grischa dazu sagen wird, wenn er wieder hier ist?«, hakte Thilo nach. »Wenn er herausfindet, dass du seine Abwesenheit ausgenutzt hast, um dich an seine kleine Schwester ranzumachen? Herzlichen Glückwunsch, willkommen in der Familie, Schwager?«, fügte er mit beißender Ironie hinzu.
Seit sie kleine Jungen gewesen waren, hatte Christian ihn nicht mehr so aufgebracht erlebt, damals hatte sein großer Bruder ihn beim Zündeln erwischt.
»Muss es denn unbedingt Katya sein?« Thilo ließ nicht locker. »Kannst du dich nicht mit irgendeiner anderen vergnügen?«
»Verdammt, Thilo«, erwiderte Christian ungeduldig, »ich meine es ernst mit Katya!«
»Umso schlimmer. Herrgott, Christian, sie ist doch noch ein halbes Kind!«
Der einzige Makel an Christians ansonsten vollkommenem Glück; eine wunde Stelle, in die Thilo erbarmungslos seinen Finger presste.
»Du hast doch keine Ahnung!«, fuhr Christian ihn an. »Nur weil du aus Stein bist, muss ich es nicht auch sein!«
Aus harten Augen starrte Thilo seinen Bruder an; in diesem Augenblick fühlte er sich tatsächlich wie eine Säule aus Marmor.
Das war es doch, was alle über ihn dachten: Thilo Petersen hat kein Herz, im Kopf nur seinen Rechenschieber. Ein Zahlenhengst, kalt wie ein Fisch und irgendwie unheimlich. Thilo hatte sich immer schon gefragt, warum Mädchen eigentlich nie bemerkten, wie weit ihre Flüsterstimmen trugen.
Lange hatte er das alles selbst über sich geglaubt, die spontanen Anfälle von körperlicher Lust eine lästige Begleiterscheinung seines Mannseins, derer er sich so mechanisch entledigte, wie er sich die Zähne putzte oder sich rasierte.
Inzwischen war er nicht mehr sicher, ob nicht doch so etwas wie Gefühle in ihm schlummerten. Noch sträubte er sich dagegen, hatte er sich kühl und klar im Griff.
»Hab wenigstens den Anstand, Grischa um Erlaubnis zu fragen, sobald er wieder da ist«, sagte er rau und wandte sich ab. »Komm jetzt essen.«
Christian nickte, obwohl sich ihm bei dem Gedanken an ein solches Gespräch mit Grischa der Magen umdrehte.
21
Grischa war schon seit drei Tagen wieder in Hamburg, und noch immer hatte Christian nicht den Mut gefunden, ihn wegen Katya zu fragen. Nie schien es einen günstigen Moment zu geben.
Randvoll mit neuen Eindrücken und Gedanken, an denen er die Brüder teilhaben ließ, war Grischa aus England zurückgekehrt. Als wollte er ihren noch immer groben Plan eines Eishandels so schnell wie möglich zurechtzurren, wirkte er rastlos. Die längste Zeit des Tages war er im Hafen unterwegs, um sich nach geeigneten Schiffen umzusehen, Charterpreise zu erfragen und sich zu erkundigen, wo er die notwendige Ausrüstung herbekam. Und wenn er zwischendurch im Laden half, waren Kunden in der Nähe.
»Je eher wir das Geschäft zum Laufen bringen, umso besser«, erklärte Grischa, als er an diesem Morgen mit Christian die gerade gelieferten Gemüsekisten hereintrug. »Jede Woche, die ungenutzt verstreicht, schmilzt unser Kapital mehr dahin, ohne dass dafür etwas hereinkommt.«
Sein Blick fiel durch die offen stehende Tür nach draußen, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Christian sah ihm nach, wie er auf den Kehrwieder hinaustrat und sich dabei die Hände an der Hose abklopfte.
Auf dem Kai streckte eines der Blumenmädchen der Stadt Passanten ein Sträußchen aus dem Korb, den sie am Arm trug, entgegen. Nicht viel älter als Katya, mager und mausig und mit traurigen Augen, achtete niemand auf sie oder ihre Veilchen.
Wie Wachs in seinen Händen. Christian hatte es immer für eine überspitzte Redensart gehalten, aber genau das geschah mit dem Mädchen, als Grischa sie ansprach. Alles an ihr wurde hell und weich, fast hübsch. Nur unter seinem Blick, ein paar Worten, seiner Nähe. Auf eine instinktive, fast lustvolle Art, die trotzdem etwas Zärtliches hatte.
Mit zwei Händen voller Veilchen kehrte Grischa zurück. Christian sah ihn fragend an.
»Für Katya und Wiebke«, erklärte Grischa augenzwinkernd.
Christian wäre am liebsten im Boden versunken, nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, Katya Blumen zu schenken.
»Ich wusste nicht, dass Katya Veilchen mag«, murmelte er beschämt, wie zu sich selbst.
Grischa lachte auf, während er die Blumen auf zwei Wassergläser verteilte.
»Ich hoffe es zumindest. Von Wiebke weiß ich es zufällig.«
Es war ein offenes Geheimnis, das Grischa eine Liebschaft in der Stadt hatte. Das lag nahe, wenn er früher als gewohnt sein Glas in der Stube der Petersens leerte und sich mit glänzenden Augen verabschiedete, ein geheimnisvolles Lächeln um den bärtigen Mund, was Arno Petersen immer mit einem verständnisvollen Zwinkern beantwortete.
Frau Kröger hatte Christian schon ein paarmal erzählt, dass Grischa erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war, mit offen stehendem Kragen; nur dass er im Bilde sei über den neuen Mieter oben.
Vermutlich, um von der noch immer ausstehenden Miete der letzten Monate abzulenken.
»Also ist es etwas Ernstes?«
Grischa sah ihn erstaunt an, als er sich die nächste Gemüsekiste griff.
»Es ist mir immer ernst.«
Demnach war Wiebke nicht Grischas erstes Mädchen. Ein befremdlicher Gedanke für Christian, da Grischa doch jünger war als er. Er fragte sich, ob Grischa schlicht ein Weiberheld war. Oder aber ein großer Romantiker, in die ganze Welt verliebt, und die Welt liebte ihn dafür zurück.
Christian sah auf, als er seinen Namen hörte.
Mit einer Hand winkend, mit der anderen die Röcke gerafft, kam eine der Nachbarinnen auf dem Kehrwieder angelaufen, noch in Puschen.
»Moin, Frau Schröder.«