»Du tust ja gerade so, als ob ich Katya von nun an einsperren will. Natürlich könnt ihr euch treffen. Nur nicht allein, nicht unter vier Augen.«
Zu einem Lausejungen zurechtgestutzt, so kam Christian sich vor. Dem ein Erwachsener die Regeln diktierte.
»Traust du mir so wenig?«
»Ich traue deinem Charakter, Christian. Aber nicht deinem Schwanz.«
»Vielleicht habe ich meinen besser im Zaum als du deinen.«
Während sie miteinander stritten, rückten ihre Hände einträchtig die letzten Mehlsäcke zurecht.
»Kannst du mir denn dein Wort geben, dass es beim Händehalten bleibt? Bei einem harmlosen Kuss, irgendwo hinter einem Baum oder hier auf dem Speicher?«
Es wäre so einfach gewesen, ja zu sagen. Mit derselben Überzeugungskraft, mit der er eine Kundin dazu brachte, eine Spule Zwirn mehr zu nehmen, zum Bohnerwachs noch eine Dose Schuhwichse, damit die Stiefel genauso glänzten wie der Boden, und zum Alltagseinkauf eine Tüte Bonbons für die Enkel.
Christian war ein guter Verkäufer, aber kein Lügner.
»Ein Jahr, Christian.«
Grischa bürstete sich das Mehl aus den Haaren, klopfte es sich aus den Kleidern.
»Wenn du sie in einem Jahr immer noch willst und sie dich auch, dann habt ihr meinen Segen, miteinander auszugehen. Wenn du dann noch einmal zwei Jahre Geduld aufbringst, gebe ich sie dir gern zur Braut, so sie will. Machst du ihr aber in der Zwischenzeit ein Kind, breche ich dir alle Knochen im Leib.«
Grischas starke Hand packte ihn an der Schulter; eine gleichermaßen versöhnliche Geste unter Freunden wie eine unmissverständliche Drohung.
Christian wünschte sich, er hätte nichts gesagt und es einfach darauf ankommen lassen. Von nun an würde nicht nur Thilo, sondern auch Grischa ein scharfes Auge auf ihn und Katya haben.
22
Als ob Grischa an diesem Morgen auf dem Speicher einen schlafenden Drachen geweckt hätte, so kam es Christian später vor.
Seitdem konnte er nicht aufhören, sich vorzustellen, wie er Katya küsste; diesen feingezeichneten Mund, ein blassrosa schimmerndes Blütenblatt. Wie es wäre, ihre schlanke Gestalt an sich zu pressen und ihr seidiges Rabenhaar durch seine Finger gleiten zu lassen. Sich in ihrem Duft zu verlieren, der ihn an einen Sommerabend an der Alster erinnerte, von einer rauchigen Würze unter der Frische von Wind und Wasser.
Wann immer sie für Mehl und Zucker und Gemüse in den Laden kam, sie einander im Treppenhaus begegneten, ein paar Worte wechselten und ein Lächeln tauschten, musste er an sich halten, sie nicht einfach bei der Hand zu nehmen und es herauszufinden.
So wie an diesem Abend, während sie ungezwungen zwischen den drei jungen Männern auf den Dielen ihrer Stube saß, weil sich der Tisch als zu klein für Papiere, Lampe, Kaffeetassen erwiesen hatte. Für ihre großen Pläne von einem Handel, der die Welt eroberte.
Immer wieder streiften Christians Blicke ihren porzellanenen Knöchel über dem pelzgefütterten Lederschuh, enthüllte ihr hochgerutschter Rocksaum etwas von ihrer schlanken Wade. Licht und Schatten modellierten ihr stolzes Profil, wenn sie sich vorneigte, um ihnen nachzuschenken, oder in einen der Kekse biss, die die Petersens mit heraufgebracht hatten.
Als Katya sich auf den Knien aufrichtete, um eine Landkarte zwischen ihnen zu entfalten, wurde der Stoff ihrer Bluse im Lampenlicht durchlässig und ließ die zarten Formen erahnen, die sich darunter verbargen.
Sein Sehnen nach einem Mädchen, immer vage und wechselhaft, hatte mal Blond bevorzugt, mal Braun oder Rot. Eine zierliche Statur, die Beschützerinstinkte weckte, dann wieder üppige Rundungen, die zum Zupacken einluden. Einmal hatte ein schüchternes Lächeln sein Herz erwärmt, dann wieder war es kecke Schnodderigkeit gewesen, die dasselbe Herz höherschlagen ließ.
Eine beständig um sich selbst kreiselnde Kompassnadel, die jetzt endlich in Katya ihren Norden gefunden hatte.
So schmerzhaft intensiv, dass es manchmal nicht zum Aushalten war. Dann versank er in Träumereien von Katya, die seine Hände über sich selbst wandern ließen, nachts, während sein Bruder tief und fest schlief. Augenblicke der Erleichterung, die ihn beschämten, danach; ein Wüstling, der mit schmutzigen Fantasien einem viel zu jungen Mädchen nachstieg.
»Hier«, sagte Katya, über die Karte gebeugt, »im Süden Norwegens. Das ist die Region, die Johann Silberberg für vielversprechend hält.«
Christian starrte auf die Umrisse der skandinavischen Halbinsel. Überflutet von Verliebtheit und Verlangen, sah er sogar darin etwas Geschlechtliches, eine obszöne Schmiererei an einer Hauswand.
»Das Landesinnere ist reich an Seen«, fuhr Katya fort. »So viele, dass vermutlich nicht einmal alle auf den Karten verzeichnet sind. Die Winter sind lang und kalt und vor allem trocken. Das Eis dort müsste genau das sein, was wir brauchen.«
Auf den Unterarmen stützte Katya sich auf der Karte ab, selbstvergessen mit hochgereckter Kehrseite und durchgedrücktem Rücken wie eine rollige Katze. Christians Blutfluss sackte in die Tiefe, hastig trank er einen Schluck frischen Kaffee und verbrannte sich daran die Zunge.
»Viele dieser Landstriche sind dünn besiedelt«, fuhr sie fort. »Wir könnten also gut einen oder mehrere Seen finden, die niemandem gehören.«
Auch Grischa beugte sich vor, um die Karte zu studieren. Sein Daumen und der Zeigefinger überspannten das Papiermeer.
»Mit Oslo und Bergen hätten wir sogar gleich zwei größere Häfen, die wir anlaufen könnten. Keiner von beiden ist mehr als fünf Tage auf See von Hamburg entfernt. Allerdings sollten wir nicht zu weit ins Landesinnere hinein. Wir müssen das Eis ja transportieren, durch den Schnee, und je kürzer der Weg, desto besser.«
»Aber weit genug von der Küste entfernt«, sagte Katya, »damit die Luft schon trocken genug ist.«
Grischa nickte. Seine Finger wanderten weiter, die eingekerbte Küste hinauf.
»Oder wir laufen in einen der Fjorde ein und gehen dort vor Anker. Nur breit und tief genug für ein Schiff müsste er sein.«
»Was ich immer noch nicht verstehe«, wandte Thilo stirnrunzelnd ein. »Warum Eis aus Norwegen? Warum keines von hier?«
»Euer Eis taugt nichts«, erwiderte Katya. »Das habe ich gesehen, als ich hier angekommen bin.«
Thilo hob eine Braue. »Besten Dank auch.«
Katyas Lachen lockte so etwas wie ein Schmunzeln auf Thilos sonst stoisches Gesicht und versetzte Christian einen Stich.
»Die Luft hier ist zu feucht«, erklärte Katya. »Feuchtes Eis schmilzt schneller. Und Flusswasser friert nicht so dicht wie das Wasser eines stillen Sees.«
»Wir haben hier doch aber Eishäuser.« Thilo blieb stur. »Darin lagert hiesiges Eis den ganzen Sommer über.«
Katya strich sich ein loses Haar aus der Stirn und richtete sich auf.
»Aber sobald du es über ein paar Tage hinweg transportieren musst, schmilzt es zu schnell. Eis aus einem See weiter im Norden hält besser. Eis, das länger Zeit hatte zu wachsen, in einer trockenen Kälte.«
Während er ihr zuhörte, hellte sich Thilos hartes Gesicht auf, wurde beinahe weich. Ihr Wissen über das Eis imponierte ihm, und er mochte die Leidenschaft, mit der sie darüber sprach.
»Was glaubst du«, unterbrach Christian scharf, »wofür die Leute nachher mehr Geld ausgeben werden? Für Eis aus einem See in Norwegen, das schon allein nach purer Kälte klingt, oder für Eis irgendwo aus Norddeutschland?«
Sein Bruder hob die Hände zum Zeichen, dass er sich geschlagen gab, und machte sich ein paar Notizen auf den Papieren, die neben seinem Knie auf den Dielen lagen.
»Wir holen das Eis also aus dem norwegischen Winter«, sagte er. »Aber wohin dann damit? Im Winter kauft uns das sicher niemand ab. Der Kunde als solcher ist kurzsichtig und kauft Kernseife vor dem Waschtag, Scheuerpulver und Bohnerwachs vor dem Frühjahrsputz. Was machen wir mit dem Eis, bis die Leute es haben wollen?«
»Wir lagern es ein«, gab Grischa zur Antwort. »Ob noch in Norwegen, hier in Hamburg oder schon im Zielhafen, das müssen wir noch sehen.«