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Im strengsten Winter seit Menschengedenken, so kalt, dass mancherorts die Vögel vom Himmel fielen, traf der Bote aus Sankt Petersburg ein. Einem Befehl vom Hof musste sogar der Grundherr gehorchen, und er ließ Jakov ziehen.

Kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann, kam Jakov in die große Stadt und sah dort zum ersten Mal das Meer. Er sah es, wie es seit einer Generation niemand gesehen hatte und noch viel länger danach niemand mehr sehen würde. Zu Eis erstarrt, so weit das Auge reichte.

Auch die Wasser der Newa waren gefroren, und emsig wie die Ameisen errichteten Arbeiter darauf einen Palast, ganz aus Eis. Ein Glanzpunkt der Feierlichkeiten nach dem Sieg über das Türkenreich, hörte Jakov. Andere erzählten ihm, dass die Zarin mit ihrem Hang zu grausamen Scherzen einen aufsässigen Höfling eine Nacht darin einsperren wollte oder einen Eispalast errichten ließ, weil sie es eben befehlen konnte.

Ein Gebäude wie aus Licht und Wind geschaffen, das dem Winter seinen Willen aufzwang.

Inmitten der anderen Handwerker, die Tische und Stühle und ein Prunkbett aus Eis schufen, schnitzte Jakov aus dem klaren und frostigen Stoff Katzen und Hunde und Vögel, Körbe voller Blumen und Früchte, Bäume mit verwunschenen Ästen und zarten Blättern.

Jakov sah den Eispalast der Zarin nie festlich erleuchtet, nie den Feuerzauber über den Delfinen und Elefanten aus Eis. Kaum hatte er den letzten Schnitt gemacht, den letzten Eisstaub fortgepustet, schickte man ihn nach Hause. Mit einer Handvoll Kopeken als Lohn und mit den Erinnerungen an dieses Abenteuer, von dem er bis zu seinem Lebensende immer wieder aufs Neue erzählen musste.

Grischa gab die Geschichte von Jakov, dem Eisschnitzer, so genau wieder, wie er sie aus den Erzählungen seines Großvaters im Gedächtnis behalten hatte.

Und während Katya mit offenen Augen von funkelnden Kristallen und einem Meer aus Eis träumte, träumte Grischa davon, die Arme auszubreiten wie Flügel und einfach davonzufliegen.

3

Vom tiefen Schnee dieses Winters umgeben, keimte ein Gedanke in Grischa auf. Ein Pflänzchen, das im bitteren Frost nur umso kräftiger wuchs.

Er würde sein Leben in die eigenen Hände nehmen und fortgehen.

So tief wurzelte dieser Plan bald in Grischa, dass auch die Bäche aus Schmelzwasser, die den großen See am Ende des Winters anschwellen ließen, ihn nicht wegspülen konnten.

Voller Tatkraft warf er sich in die Arbeit im Stall, im Wald und auf den Äckern, das Brennen in seinen Muskeln wie ein Zeichen, dass er genauso stark und unbeugsam war wie die Natur nach ihrem Winterschlaf. Und während die neugeborene Sonne auf ihrer Bahn höher kletterte, zählte Grischa die Tage. Bis er sicher sein konnte, dass das milde Wetter halten würde.

Grischa legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Die Luft roch würzig, nach frisch aufgebrochener Erde und dem ersten Grün; mit jeder Faser hatte er diesen Frühling herbeigesehnt.

Junge Grashalme glänzten zwischen den Feldsteinen, einige davon bereits von Flechten und Moos überzogen. Jakov, der Eisschnitzer, war hier begraben und seine Frau. Ebenso die Brüder und die Schwestern, die lange vor Grischa zur Welt gekommen und gleich wieder gegangen waren. Die Großmutter. Seine Mutter und zuletzt der Großvater.

Großvater hätte sicher bemerkt, was Grischa vorhatte. Ihn beiseitegenommen und ein ernstes Wort mit ihm geredet. Als ob Grischa nicht wüsste, dass er dabei war, das Gesetz zu brechen, das ihn an diesen Boden band.

Deshalb war er noch einmal an das Grab des Großvaters gekommen. Um sich zu verabschieden und Abbitte zu leisten. Für so etwas wie einen Segen.

»Ich wünschte, ich könnte es dir erklären«, murmelte Grischa. »Und dass du eines Tages trotzdem stolz auf mich gewesen wärst.«

»Mir fehlt Deduschka auch.«

Grischa hob den Kopf. Unsicher, wie lange seine Schwester schon dastand, nickte er nur.

Flaumfedern hatten sich in ihren Haaren verfangen, Spuren von Ruß und Mehl zogen sich über ihre Wange. In ihrem Rock klaffte ein Riss, den sie bestimmt heute Abend nach dem Essen noch flicken würde, auch wenn ihr schon beinahe die Augen zufielen.

Katya verdiente etwas Besseres. Hübsche Kleider für den Alltag und ein feines Gewand für Festtage und bunte Bänder für ihren Zopf. Und Zuckerzeug, Grischa wünschte sich Zuckerzeug für Katya, wie es dem Hörensagen nach welches im Haus des Grundherrn gab, ohne dass Grischa eine genauere Vorstellung davon hatte.

Klein und verwundbar wirkte sie, wie sie so dastand. Zu klein für eine solche Flucht, bei dem Gedanken daran wurde sogar ihm flau im Bauch. Ihm graute davor, Katya schutzlos dem Vater und den Brüdern zu überlassen, ihrer groben Männlichkeit. Aber er hatte keine andere Wahl.

Grischa zögerte, dann holte er sein Messer hervor.

»Das ist jetzt deines.«

Misstrauisch sah Katya ihn an.

»Warum willst du mir dein Messer schenken?«

Es war ein schönes Werkzeug, eine nützliche Waffe, der Griff aus poliertem Holz. Vom Großvater hatte er es bekommen, der ihm gezeigt hatte, wie er die herausschnappende Klinge scharf und glänzend hielt und wie er die Feder ersetzen konnte, sollte diese einmal brechen. Grischas wertvollster Besitz; bis aufs Blut hatte er dieses Messer gegen die Brüder verteidigt.

»Es hat früher einmal Urgroßvater gehört. Er hat damit das Eis geschnitzt. Ich dachte, du solltest es an meiner Stelle haben.«

Katyas Augen verdunkelten sich, und sie senkte den Blick.

Grischa hatte sich verändert seit dem Winter. Wie ausgehöhlt kam er ihr manchmal vor, nur noch eine körperliche Hülle, die bei den Mahlzeiten mit am Tisch saß und nachts auf dem Strohsack neben ihr schlief. Dass er ihr jetzt diesen Schatz überließ, verhieß nichts Gutes.

Widerstrebend und ohne ihrem Bruder in die Augen zu sehen, nahm sie das Messer entgegen.

»Ich werde gut darauf aufpassen«, sagte sie und gab sich selbst das Versprechen, auch auf Grischa zu achten.

Grischa tat so, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. Wie immer fütterte er gegen Abend das Vieh im Stall und tränkte es. Saß wie immer zum Essen am Tisch und schmunzelte sogar über einen schmutzigen Witz, den Boris erzählte, für den dieser sich dann eine Ohrfeige des Vaters einhandelte.

Fast schien es ihm selbst, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag, eine gewöhnliche Nacht; sein Magen, der sich immer wieder aufgeregt zusammenzog, erinnerte ihn jedoch ein ums andere Mal daran, dass dem nicht so war.

Grischa starrte ins Dunkel.

Es war schwer, nach einem Tag auf dem Feld die Augen offen zu halten, inmitten der eintönigen Schlafgeräusche im Raum.

So leicht wäre es, sich auch in den Schlaf fallen zu lassen. Noch einen Tag, noch eine Nacht verstreichen zu lassen. Fügsam wie ein Schaf einfach weiterzumachen wie bisher und darauf zu hoffen, dass sich von selbst etwas änderte.

Katyas Atemzüge neben ihm waren tief, vollkommen arglos, und seine Brust krampfte sich zusammen. Er wünschte, sie wäre noch klein genug, um sie auf den Schultern tragen zu können. Schon groß genug, dass er sie bei der Hand nehmen und mit ihr zusammen fortgehen könnte.

Grischa hatte Angst. Eine Angst, die sich spitz in seine Knochen ritzte, ihm den Magen umdrehte. Doch noch größere Angst hatte er, den richtigen Moment zu verpassen. Dass sein Mut ausflockte wie saure Milch.

Behutsam schob er sich vom Strohsack herunter. Die Schuhe in der Hand, tastete er sich durch den finsteren Raum und schloss geräuschlos die Tür hinter sich.

Katyas ruhiger Atem brach jäh ab, und sie schlug die Augen auf.

In der Scheune holte Grischa sein Bündel aus dem Versteck zwischen den Strohballen. Die Dunkelheit machte es ihm leicht, keinen Blick zurückzuwerfen. Er dachte nur noch daran, was vor ihm lag, während er sich in die Nacht hinausstahl und sich von der Schwärze des Waldes verschlucken ließ.