»Hier im Hafen steht genug Lagerraum leer«, meinte Christian, auf befreiende Weise von Katya abgelenkt. »Da bekommen wir sicher etwas für einen Appel und ein Ei.«
Thilo nickte und schrieb ein paar Stichworte dazu nieder, bevor er wieder den Blick hob.
»Aber wie halten wir es solange kühl oder sogar kalt? Für mindestens ein Vierteljahr, wenn nicht länger?«
»Mit Sägemehl«, erwiderte Grischa, ohne zu zögern. »Ich habe lange darüber nachgedacht und überall in Lagerhäusern herumgefragt, womit man eine Fracht am besten dämmt. Mir fällt nichts Besseres ein als das, was wir früher in Russland dazu benutzt haben, im Eiskeller des Grundherrn. In Norwegen wird viel Holz geschlagen und verschifft, wir könnten Sägemehl dort billig bekommen, vielleicht sogar umsonst. In manchen Jahren haben wir auch … Ich weiß nicht, wie es auf Deutsch heißt. Getrocknete Erde aus dem Moor haben wir dafür genommen. Auf Russisch torv .«
Ein Mundwinkel Thilos zuckte; weich und flach hatte Grischa das Wort ausgesprochen, sodass es mehr wie Dorf klang, aber das Wort war eindeutig dasselbe.
»Torf. Ja, so heißt das bei uns auch. Davon haben wir mehr als genug hier im Norden.«
Sein Gesicht blieb reglos, doch seine wolkengrauen Augen klarten auf. Ein Funke glomm in Grischas braunen Augen, und lächelnd beugte er sich wieder über die Karte.
»Ich hatte eine Menge Zeit in England, mich umzuhören. Unsere Fracht für Hamburg steckte nämlich noch im Schlamm fest, nachdem es wochenlang geregnet hatte und die Straßen überflutet waren. Ich glaube, England wäre der perfekte Markt für unser Eis. Die Winter dort sind oft mild. Zu mild, um viel Eis hervorzubringen, aber die Sommer sind warm. Die Leute essen gern frischen Fisch, und die feinen Ladys und Gentlemen mögen ihre Drinks gekühlt. Wenn wir unser Eis für gutes Geld verkaufen können, dann dort, in einem englischen Sommer.«
Er zeigte auf die Dielen, schräg unterhalb des Kartenrandes, ungefähr dorthin, wo England eingezeichnet wäre.
»London ist ebenfalls nur fünf Tage auf See entfernt. Die Sache hat aber einen Haken. Ich spreche so gut wie kein Englisch. Als ich mich überall durchgefragt habe, habe ich jemanden gebraucht, der für mich übersetzte.«
Johnny Skovsgaard, der dänische Bootsmann, dem der Übermut aus den blitzblauen Augen sprühte. Mit messerscharfen Wangenknochen unter der sommersprossigen Haut, einem Kinn wie der Winkel eines Sextanten und Hinterbacken, die Walnüsse hätten knacken können.
Christian und Thilo tauschten einen langen Blick.
»Wir sprechen beide Englisch«, sagte Christian dann.
Als englischste Stadt auf dem Kontinent hatte Hamburg früher gegolten. Eine Seelenverwandtschaft, die weit über Tweedjacken, Tabakspfeife und Teatime hinausging und in der sich hanseatische Haltung und englische stiff upper lip verbrüderten. Wenn es in London regnete, spannten die Hamburger ihre Regenschirme auf, wie es hieß, so eng waren die Bande über die Nordsee hinweg gewesen.
Bis Napoleon sie säbelrasselnd durchtrennte.
Überzeugt, dass sich der Wind der Mächtigen einmal wieder drehen würde, hatte Arno Petersen seinen Söhnen nicht nur beigebracht, hinter der Toonbank zu stehen und die Bücher zu führen, sondern sie auch die verbotene Sprache gelehrt.
»Leidlich«, widersprach Thilo. »Meines jedenfalls ist reichlich eingerostet.«
»England ist es dann also«, beschloss Grischa.
Locker stützten sich seine Finger auf die Dielen, ganz so, als hielte er England bereits in der Hand.
»Ein Engländer hat vor einiger Zeit schon einmal versucht, mit Eis aus Norwegen zu handeln.«
Grischa genoss die gebannten Blicke Katyas und der beiden Brüder Petersen.
»Er hat sich dabei aber ungeschickt angestellt und ist mit einem Schiff voller Schmelzwasser beinahe gesunken.«
Katya beugte sich wieder über die Karte und ließ ihre Fingerspitzen an den eingezeichneten Bergen und Seen entlangwandern; bis in ihre Ellbogen hinauf kribbelte es, als könnte sie das Eis dort schon fühlen.
»Wir müssen an das dichteste und festeste Eis kommen, das wir kriegen können«, murmelte sie schließlich. »Das beste Eis.«
Grischa nickte.
»Und mit einer Pumpe müssen wir ständig das Schmelzwasser aus dem Frachtraum hinausbefördern. Viele Schiffe haben eine Pumpe an Bord, für Bilgewasser, das sich während der Fahrt unten im Rumpf sammelt. So eine brauchen wir dann für unser Schmelzwasser. Eine möglichst starke.«
Über seinen Notizen stöhnte Thilo auf.
»Ich höre immer nur, was wir alles brauchen. Wie wir das bezahlen wollen, darüber reden wir nie.«
»Wenn es nicht reicht, beleihen wir eben das Haus«, schlug Christian kühn vor.
Thilo starrte ihn eisig an.
»Und wenn es schiefgeht, verlieren wir nicht nur den Laden, sondern sitzen auch auf der Straße. Das kannst du Vadder nicht antun.«
»Wenn es gut geht«, forderte Christian seinen Bruder heraus, »können wir ihm nicht nur ein neues Holzbein kaufen, sondern auch eine Hilfe für ihn anstellen. Vielleicht sogar umziehen in ein Haus, in dem er besser zurechtkommt als hier mit den steilen Treppen.«
Wie Thilos schmale Augen sich verdunkelten und wieder aufhellten, verriet, wie er mit sich rang.
»So oder so können wir das nicht machen«, sagte er schließlich. »Das Haus läuft auf Arno Petersen, genau wie der Laden.«
»Sprich du mit ihm. Als der Ältere. Der Nachfolger.«
Thilo hielt dem drängenden Blick seines Bruders stand.
»Er hat immer gesagt, er übergibt den Laden uns beiden, wenn wir ihn beide wollen. Sprich du mit ihm, du bist doch derjenige, der immer kriegt, was er will.«
»Auf schöne Worte gibt er nichts, das weißt du. Er verlässt sich nur auf Zahlen.«
Ein Tauziehen um Schwächen und Stärken und Verantwortlichkeiten, das den Brüdern zur zweiten Natur geworden war. Manchmal dachte Christian, dass die schweren Zeiten, die sie durchlitten hatten, seinen Vater und Thilo zusammengeschweißt hatten und er selbst, während er im Fieber lag, den Anschluss verpasst hatte.
Schließlich schüttelte Thilo nur den Kopf und versenkte sich wieder in seine Notizen.
»Also holst du uns diesen Winter das erste Eis«, sagte er nach einer kleinen Pause mit einem flüchtigen Seitenblick auf Grischa.
»Wir alle zusammen. Wir werden in Norwegen jede Hand brauchen, die wir kriegen können, um das Eis zu schneiden und zu verladen. Und das ist harte Arbeit, glaub mir.«
Thilo dachte darüber nach.
»Das geht nicht. Einer muss hierbleiben, bei unserem Vater. Wenn es ihm gut geht, kommt er allein zurecht. Aber das ist nun einmal nicht immer so. Und jemand muss sich auch um den Laden kümmern, den können wir nicht für mehrere Wochen schließen. Solange das Geschäft mit dem Eis noch nichts abwirft, brauchen wir das Geld, das hier reinkommt.«
»Katya ist doch da«, warf Christian, ohne nachzudenken, ein.
Katyas Augen, im Zwielicht des Zimmers dunkel wie Indigo, richteten sich auf ihn.
»Katya kommt mit nach Norwegen. Wir brauchen sie dort.«
Gewichtig wie ein Felsblock stellte Grischa diese Tatsache in den Raum.
»Der Handel mit Eis war außerdem ihre Idee.«
Christian fragte sich, ob er dieses kleine Detail irgendwann überhört oder ob Grischa es wohlweislich verschwiegen hatte.
Katya brauchte ihren Bruder nicht, um für sich selbst einzustehen.
»Und es ist auch mein Geld, für das ich fünf Jahre lang gearbeitet und gespart habe. Dieses Geschäft ist ebenso gut meines wie eures«, erklärte sie.
Hell und klar waren ihre Augen jetzt, von einem durchdringenden Blau, das fast ins Grüne spielte.
Eine Täuschung des Lampenlichts vielleicht, unruhig im Luftzug der Fenster; trotzdem hatte Christian noch nie solche Augen gesehen, und er begriff, wie wenig er Katya wirklich kannte.
Mit dem nächsten Wimpernschlag glaubte er, einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die sie einmal werden würde, furchtlos und willensstark, ihr Verstand klar und scharf wie ein Eiszapfen. Von einer inneren Schönheit, wild und facettenreich, die noch ihre äußere überstrahlte.