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Plötzlich war er unsicher, wie er einer solchen Frau je genügen sollte.

Grischa hielt seine Rechte ausgestreckt über die Karte.

»Auf Petersen & Voronin. «

Katya legte strahlend die Hand in die ihres Bruders und wiederholte seine Worte.

Eine Spur von Ironie um den Mund, zuckte eine von Thilos Brauen auf; er war zu nüchtern veranlagt für betont feierliche Momente. Seine grauen Augen blickten jedoch tiefernst, als er seine große Männerhand obenauf legte.

»Petersen & Voronin.«

Christian zögerte. Ein Handschlag war in Hamburg so bindend wie ein schriftlicher und von einem Notar abgesegneter Vertrag, das hatten die Brüder mit der Luft, die sie atmeten, aufgesogen.

Noch konnte er einen Rückzieher machen. Aber diese Idee war so verrückt, dass sie zwangsläufig ein Erfolg werden musste, das spürte er tief in jedem Knochen. Die einmalige Chance, ihrer aller Leben, die am Rand der Armut vor sich hin dümpelten, etwas Größeres, Besseres abzuringen.

Christian griff zu. »Auf das Geschäft.«

Seine Gedanken kreisten nur noch um zwei Dinge.

Er musste sich Katya aus dem Kopf schlagen.

Und sie brauchten ein Schiff.

23

Mathilde Pohl machte sich keine Illusionen über ihr einziges Kind. Henriette war ein liebes Mädchen und auch recht hübsch mit ihren blauen Kulleraugen und den mädchenhaft weichen Zügen. Ihr größter Vorzug war ihr dickes blondes Haar, das in der feuchten Luft Hamburgs allerdings schnell krauste und nur mit viel Aufwand in gefügigen Locken unter die Haube zu bringen war.

Zurückhaltung stand einem jungen Mädchen gut zu Gesicht, aber ihre Tochter übertrieb es mit ihrer Schüchternheit, wirkte verstockt. Wie schlicht gestrickt, wenn sie wieder den Kuchen im Ofen vergaß. Mathilde Pohl wusste nicht, wo das Mädchen nur immer mit ihren Gedanken war. Vor allem naschte sie viel zu gern; süße siebzehn war sie, aber das brauchte sie ja nicht gleich wörtlich zu nehmen.

»Henny«, flüsterte Mathilde Pohl, während ihre Tochter neben ihr über den Kai trottete. »Haltung.«

Gehorsam straffte Henny sich und hob den Kopf.

»Nicht so. Jetzt siehst du aus, als würdest du hochnäsig auf alle heruntergucken. Moin, Frau Lürsen.«

Henny dachte, dass sie ja nichts dafür konnte, wenn der liebe Gott ihr eine Himmelfahrtsnase mitgegeben hatte, bemühte sich aber trotzdem, es ihrer Mutter recht zu machen. Unwillkürlich beulte sie mit der Zungenspitze ihre Wange aus, wie immer, wenn sie angespannt oder nervös war, was ihr prompt erneut eine Ermahnung einbrachte.

Mit knapp achtzehn Jahren im heiratsfähigen Alter zu sein verwirrte sie. Weibliche Rundungen sollte sie aufweisen, aber nicht zu viel. Bescheiden und demütig hatte sie zu sein, aber nicht zu still oder gar stumm. Natürlich gehörte es sich, viel in die Kirche zu gehen, aber als Betschwester musste sie ja auch nicht gleich gelten.

Da Henny anscheinend nichts richtig machen konnte, hatte sie das Gefühl, als wäre etwas an ihr grundfalsch. Kein Wunder, dass sie sich oft müde fühlte und am liebsten ihre Tage im Bett verbracht hätte. Am allerliebsten mit einer Dose voller Schnopkram. Bonbons, Karamell, Kekse, Marzipan und Schokolade trösteten und füllten das Loch, das irgendwo tief in Henny klaffte, obwohl ihr Bauch rund und stramm war.

Heimweh, glaubte Henny, sie hatte einfach Heimweh nach Lübeck. Vielleicht sehnte sie sich auch nur in ihre Kindheit zurück, die im Rückblick so viel leichter und einfacher gewesen zu sein schien.

Es würde noch komplizierter und schwieriger werden, sobald sie einmal verheiratet war, wie ihre Mutter düster orakelte, ohne dass sie jemals genauer darauf einging.

Bis dahin war aber noch Zeit, noch hatte sich kein Bewerber um Hennys Hand und den dazugehörigen Rest eingestellt. Hamburg war voll von Mädchen, hübscher, auffälliger, lebhafter, tüchtiger oder schlicht wohlhabender als Henriette Pohl.

Obwohl das Geschäft gut lief; nach acht Jahren hatte sich Heinrich Pohls Ahnung bewahrheitet, der Hamburger Hafen würde sich schneller von der Franzosenzeit erholen als das ebenfalls an Napoleons Handelsblockade zugrunde gegangene Lübeck. Inzwischen konnten sich die Pohls ein Mädchen leisten, das jeden Morgen für die gröbsten Arbeiten vorbeikam, womöglich gar einen Umzug an den schickeren Neuen Wandrahm.

Mathilde Pohl jedenfalls wollte weg vom Kehrwieder und jammerte in einem fort über das Elend, das bis an ihre Türschwelle schwappte. Hennys Vater wollte davon jedoch nichts hören. Von Zuhause aus war es nur ein kleiner Spaziergang zu den Werften und Kaianlagen, wo er in seinem Kontor Schiffe vermittelte und ihre Fracht abfertigte, und damit hatte sich das Thema für ihn erledigt.

Henny verstand die Klagen ihrer Mutter nicht. Sie hatten es doch schön in der hellen und freundlichen Wohnung am Brook und alles an Läden für den täglichen Bedarf in Gehweite. Und sie wusste auch nicht, was an den Leuten verkehrt sein sollte, die ein bescheideneres Dasein fristeten als die Pohls oder die Hildebrands, die Schulzens und Wortmanns in ihrem Vorderhaus.

Stunden konnte Henny an der hinteren Luke des Dachbodens zubringen und auf die verwinkelten Gänge und Gassen hinunterschauen, in die grauen Hinterhöfe und aufeinandergestapelten Bretterbuden. Ein Puppenhaus für Erwachsene, zwischen Wäscheleinen und Kehrichthaufen, streunenden Katzen und räudigen Hunden. Da unten, da war das ungeschönte und wahre Leben mit seinen Dramen zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern, Liebenden und Nebenbuhlern, greinenden Säuglingen und siechenden Greisen. So viel fesselnder und bewegender als das, was der Klatsch bei den Teekränzchen ihrer Mutter daraus machte.

»Henny«, zischte Mathilde Pohl.

Nur widerwillig löste Henny ihren Blick von dem Fischer, der in beiden Händen seinen silberglänzenden Fang an den Schwanzflossen gebündelt trug, belagert von kreischenden Möwen, die ihm etwas davon abluchsen wollten. Sie wäre gern noch auf dem Kai stehen geblieben an diesem Morgen, der schon nach Sommer roch, folgte dann aber ihrer Mutter brav über die Schwelle des Gemischtwarenladens.

»Moin, Herr Petersen. Was macht das Bein?«

Vergnügt richtete sich Arno Petersen von einer der Gemüsekisten auf.

»Moin, Moin, Frau Pohl. Fräulein Henny. Kann nicht klagen, Frau Pohl. Der Sommer kommt. Was kann ich Ihnen Gutes tun?«

Während Mathilde Pohl sich Speck und Käse abschneiden ließ, betrachtete Henny sehnsüchtig die Gläser voller Bonbons in ihren hübschen Farben.

»Pfefferminz oder Karamell?«, flüsterte eine Stimme warm neben ihrem Ohr.

Henny sah auf und sofort wieder weg; heiße Röte schoss in ihr Gesicht.

Alle ihre Freundinnen waren in Christian Petersen verliebt. Dass er gern Mädchen küsste, sahen ihm sogar die Mütter, Tanten, Großmütter nach, weil er dabei trotzdem anständig blieb. Und welche von ihnen hätte sich nicht von Christian Petersen küssen lassen, wäre sie noch jung und hübsch, den Kopf voll mit romantischen Flausen, die ihnen die Realität von Ehe und Mutterschaft nach und nach ausgetrieben hatte.

»Oder lieber Himbeer?«

Hennys Zunge bohrte sich in ihre Wange.

Himmlisch waren Christians Küsse, hatte Frieda Brandt erzählt, mit der Henny eigentlich nicht mehr befreundet sein durfte. Nicht weil Frieda und ihre Mutter putzen gingen, um die Witwenpension, von der sie lebten, aufzubessern, sondern weil Mathilde Pohl Frieda zu flott fand.

Henny wusste nicht genau, was das bedeutete. Sie bezog es auf Friedas klares, offenes Gesicht mit den moosgrün gesprenkelten Augen, das kupferglänzende Haar und den großen roten Mund, der immer lachte. Sie zweifelte nicht daran, dass es stimmte, wenn Frieda sagte, Christian wartete nur auf ihren achtzehnten Geburtstag, bevor er sie fragen würde, ob sie fest miteinander gingen.

»Hübsch siehst du heute aus, Henny«, sagte Christian von der Leiter herunter. »Neues Kleid?«

Die Augen an ihren Schuhspitzen festgesaugt, nickte Henny.