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Beide schwiegen sie. Die Abendluft roch nach Wasser und Sonne, tangig und ein bisschen nach Fisch.

Das Glockenspiel von Sankt Nikolai schlug die halbe Stunde.

»Wir waren uns doch einig«, sagte Thilo. »Ob Grischa hier ist oder nicht, unterm Strich sparen wir alle, wenn wir zusammen kochen und essen anstatt jeder für sich, oben und unten.«

Christian hatte nicht gewusst, wie hart es werden würde.

Jeden Tag bekam er vor Augen geführt, wie es wäre, Katya zur Frau zu haben. Ohne dass er die Arme um sie schlingen konnte, wenn sie am Herd stand, und das Gesicht in ihre aufgesteckten Zöpfe zu drücken, die schwarzen Härchen in ihrem Nacken zu küssen. Nicht im Lampenlicht zu ihr ins Bett zu schlüpfen und sich an ihrer Schönheit betrinken zu dürfen, ihren Atem auf seiner Haut, ihr gehauchtes Lachen in seinem Ohr, und morgens als Allererstes in ihr Gesicht zu blicken.

Ein Jahr musste er darauf warten, bis er sie ausführen durfte, von dem erst ein paar Monate vergangen waren; für sich genommen schon eine Ewigkeit. Zwei weitere Jahre, in denen er sich damit begnügen musste, ihre Hand zu halten und sie zu küssen.

Eine Folter war es, für den Leib ebenso wie für die Seele.

»Geht es um das Geschäft?«, riet Thilo.

Eine kalte Hand streckte sich nach Christian aus.

»Sie führt sich auf, als wäre es allein ihres.«

Christian tat ihr unrecht, und das wusste er auch.

Eine beißende Unruhe war unter seine Haut gezogen und reizte ihn bis auf die Knochen. Eine rebellische Rastlosigkeit, die er nicht einmal als Heranwachsender erlebt hatte, während seine Arme und Beine in die Länge schossen wie Bohnentriebe, sein Körper sich auf verstörende Weise täglich neu zusammenfügte, hin zu etwas, das er irgendwann danach als Mannsein begriff.

Jetzt erst brach blinder Zorn aus ihm hervor, in dem er sich gegen Katya auflehnte, die Welt, gegen sich selbst.

Thilo hob die Brauen.

»Das Geschäft steht und fällt mit Katya, das ist dir doch klar. Ich jedenfalls könnte Gletschereis nicht von Eis aus einem See oder einem Fluss unterscheiden.«

»Meinetwegen«, erwiderte Christian. »Aber deswegen muss sie doch nicht gleichberechtigte Geschäftspartnerin sein.«

Es würde noch härter werden, tagelang mit Katya auf einem Schiff zusammengepfercht. In den Wochen, vielleicht Monaten, die sie durch Norwegen ziehen würden, in einer Leere aus Schnee und Eis.

»Warum nicht? Mutter hat doch auch mit im Laden gestanden und ihn oft allein gestemmt, wenn Vadder nach Altona hinübergefahren ist.«

»Das war etwas anderes.«

Thilo runzelte die Stirn. »Inwiefern?«

Wie der Stich einer dünnen Klinge war der Blick, den Christian seinem Bruder zuwarf.

»Angeblich ist sie noch nicht alt genug, um mit mir auszugehen. Aber zu jung, um ein Geschäft mit uns zusammen zu führen, ist sie offenbar nicht.«

Ein Anflug des Begreifens glitt über Thilos Gesicht; daher wehte also der schneidende Ostwind bei Christian.

»Du vergleichst Äpfel mit Birnen, und das weißt du auch.«

Schweigend blinzelte Christian in das Licht des Sommerabends.

Er wünschte, er könnte wie Grischa sein, der sich nahm, was er wollte, ohne Gewissensbisse, ohne Reue, ob sie nun Wiebke hieß, Johanna oder Lotte.

»Du kannst immer noch aussteigen«, sagte Thilo.

So weit kam es noch, dass er sich von einem Mädchen aus einem vielversprechenden Geschäft drängen ließ. Christian erschrak selbst über diesen Gedanken.

So sollte es nicht sein, dachte er, wenn man verliebt ist.

Es sollte nicht das Hässliche in einem hervorbringen. Nicht die Schwächen und Unsicherheiten ans Licht zerren, die dunklen Flecken; es sollte nicht hungrig machen, sondern satt.

Thilo betrachtete seinen Bruder, der nur ein einziges Mal hatte kämpfen müssen, und dann gleich um sein Leben; vielleicht war es auch nur eine Gnade gewesen, die ihm genauso in den Schoß gefallen war wie alles andere. Sein gutes Aussehen. Seine sonnige Art. Der Schlag, den er beim anderen Geschlecht hatte.

Ihm dämmerte, wie schwierig es werden würde, das Versprechen, das sie oben bei Katya und Grischa mit einem Handschlag besiegelt hatten, auch zu halten; es wäre leichter, hätten sich vier Fremde zusammengetan. Thilo war jetzt schon müde, wenn er daran dachte, wie sie den Handel nicht nur durch die Stürme und Untiefen des Geschäftslebens steuerten, sondern auch durch die Unwetter, die sie selbst untereinander heraufbeschworen.

Eine Weile war nur das Wasser zu hören, das draußen an die Kähne und die Hafenmauer schlug. Die Rufe der Bootsleute, die Stimmen, die sich unten auf dem Kai zusammenzogen und wieder zerstreuten, das Lachen. Das Locken der Möwen, eigentümlich sehnsuchtsvoll.

Klänge, die schon den Herzschlag der Brüder begleitet hatten, bevor sie überhaupt geboren waren.

In diesem Moment fühlte sich Thilo mehr mit seinem Bruder verbunden, als Christian ahnen konnte. In seinem eigenen Begehren, das ihn manchmal nachts wach hielt, sein unruhig pochendes Herz dann eine schmerzhaft leere und erschreckend dünne Membran.

Sinnlos, darauf zu hoffen, dass sich sein Sehnen irgendwann erfüllte; ein Gefühl von Vergeblichkeit, so fahl wie das Licht eines neuen Tages.

Jenseits der Tür rief Katya zum Essen.

Christian dachte an Henny Pohl. Wie sie ihn heute Morgen im Laden angesehen hatte, verzückt und hingebungsvoll. Von einem milden, lieblichen Blau waren ihre Augen, wie Vergissmeinnicht. Anders als Katyas Augen, schillernd und durchdringend und unergründlich.

Bei Augen wie denen von Henny musste man nicht fürchten, dass sie einen verhexten. Dass man sich darin verlor.

Ein verirrter Sonnenstrahl, irgendwo von einer Fensterscheibe, einem Stück Metall reflektiert, fiel auf Christians Gesicht, und geblendet schloss er die Lider.

24

In goldenen Rauten funkelte die Sonne auf dem Wasser der Binnenalster, von einer leichten Brise gekräuselt.

Mit beiden Händen hielt Henny sich am Rand des schaukelnden Ruderboots fest und sah zum Jungfernstieg hinüber. Im Schatten der Bäume rollten gemächlich offene Landauer und Gigs vorüber, die Hüte und Sonnenschirme der Damen darin wie zarte Sommerblumen. Reiter führten im Schritttempo ihre edlen Rösser aus, dazwischen promenierten Familien mit ihren Kindern und verliebte Paare. Und natürlich die feinen Bürger, die hier auf ihrem Sonntagsspaziergang ebenso zwanglos wie redlich der Gesellschaft ihre heiratswilligen Töchter präsentierten.

Heinrich Pohl hielt davon nichts. Der reinste Viehmarkt, pflegte er hinter seiner Zeitung zu brummen, bunte Bänder an den Hörnern der Preiskuh inklusive, was jedes Mal ein entrüstetes Zischen seiner Frau heraufbeschwor.

Henny reckte ihre Stupsnase höher. Jetzt hatte sie das auch nicht mehr nötig, jetzt ging sie mit Christian Petersen aus, den dritten Sonntag in Folge.

Verstohlen schielte sie unter ihrem Strohhut zu ihm hinüber. Helle Glanzlichter durchzogen seine Haare, seine Augen leuchteten im sonnengetönten Gesicht umso blauer. Er hatte das Sommerjackett ausgezogen, die Ärmel aufgekrempelt; Henny bewunderte das Spiel der Sehnen und Muskeln seiner sommerbraunen Arme bei jedem Ruderschlag.

Sie konnte es noch immer nicht recht fassen, dass sie sich tatsächlich getraut hatte, ohne ihre Mutter einkaufen zu gehen. Dass Christian, Christian Petersen, sie über Erbsen und Salz hinweg zu einem Kaffee und einem Stück Kuchen eingeladen hatte. In den Schweizer Pavillon, weil sie den Alsterpavillon überlaufen fand und es dort immer Herren gab, die sich, vom Personal und den meisten Gästen geduldet, nachmittags schon eine Zigarre anzündeten, obwohl eigentlich erst ab dem späten Abend erlaubt.

Während Mathilde Pohl ihre Tochter bei Kathi oder bei Betty wähnte, war sie mit Christian die neue Allee am Sandtorkai entlangspaziert und unter den Linden an der Binnenalster, an der Windmühle vorbei. Über die neue Lombardsbrücke waren sie gegangen, die noch nach frischem Holz roch, und hatten miteinander über den alten Kinderreim zu den fünf Kirchtürmen der Stadt gelacht, die man von dort aus allesamt im Blick hatte.