Ihre Blicke trafen sich, mündeten in ein kleines Lächeln.
Katya war das erste Mädchen, bei dem Thilo sich wohlfühlte. Weil sie das erste Mädchen war, das er näher kennengelernt hatte, sie Grischas Schwester war oder schlicht anders. Schon allein dadurch, dass sie ihm halbwegs auf Augenhöhe begegnete, höher gewachsen als die meisten Mädchen ihres Alters. Und Katya kokettierte auch nie, kicherte nicht dümmlich.
Mit ihr konnte er reden und genauso gut schweigen; schön anzusehen war sie obendrein, er war ja nicht blind.
Eine Vertrautheit hatte sich zwischen ihnen eingeschlichen, auf leisen Pfoten. Thilo musste an die Katzen vom Speicher denken, die jetzt immer schon im Treppenhaus darauf zu warten schienen, dass Katya sie, mit einem gehauchten Lachen und geflüsterten russischen Koseworten, streichelte und hinter den Ohren kraulte.
Aus dieser wachsenden Vertrautheit schöpfte er den Mut nachzuhaken.
»Aber etwas bedrückt dich doch.«
Er wich einem Mann aus, nicht viel älter als Arno Petersen, der sich an seinem Stock vorwärtsschleppte, das Kinn fast auf Kniehöhe hinuntergezwungen von dem buckligen Rücken. Dazu verdammt, seinen Blick nie wieder über die übelriechenden Rinnsale auf dem Boden erheben zu können.
»Ist es wegen Christian?«
Katya schwieg.
Dass Christian um Erlaubnis gebeten hatte, mit ihr auszugehen, hatte ihr Herz höherschlagen lassen. Natürlich verstand sie, dass sie dafür noch zu jung war, sie war ja erst fünfzehn, Christian seit April schon zweiundzwanzig.
Sie sahen sich trotzdem jeden Tag, spätestens zum Abendessen. Wenn Grischa gerade ein paar Tage da war, schlenderten sie sonntags zu viert durch die Stadt und erzählten sich gegenseitig, was sie sich alles kaufen wollten, wenn sie einmal reich wären – feine Anzüge und glänzende Schuhe, einen eigenen Wagen, einen weichen Teppich für den Fußboden, Katya einen schönen Hut.
Hin und wieder zwängten sie sich alle zusammen in eines der Ruderboote auf der Binnenalster, was nie ohne viel Geschaukel und Gelächter vonstattenging. Oder sie gaben ein paar Groschen auf dem Hamburger Berg aus, beim Dosenwerfen und für die Camera obscura, zwischen Schlangenbeschwörern und Bauchrednern; dort, wo sich die Kaschemmen aneinanderreihten und die Häuser der Freudenmädchen.
Katya genügte es, dabei immer wieder Christians Blicke auf sich zu spüren, ein Lächeln auszutauschen. Davon zu träumen, wie Christian sie bei der Hand hielt und wie es sein würde, wenn er sie in seine Arme zog und zärtlich küsste. Zu wissen, dass er da war, ein paar Wände, einige Stockwerke von ihr entfernt.
Manchmal jedoch, um die Zeit ihrer Monatsblutung herum, spürte sie zwischen den Krämpfen ein dumpfes Pochen, wohlig und weh zugleich. Eine warme Leere, die sich danach sehnte, gefüllt zu werden. Ein Pulsieren bis tief in ihr Becken hinein, das Katya unruhig machte und ahnen ließ, was für eine Kraft in ihrem Schoß schlummerte.
Sie konnte nur raten, wie schwer es Christian fiel, geduldig zu bleiben, der doch sicher etwas ganz Ähnliches empfand, wie auch immer das für einen Mann sein mochte. Dass er deshalb so oft ihrem Blick auswich und zurückzuckte, wenn sie einander unabsichtlich in der Küche streiften, manchmal launisch und gereizt war.
Sobald Katya sich bereit dafür fühlte, würde sie auch Grischa davon überzeugen können, erwachsen genug zu sein. Dass Christian solange auf sie wartete, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
»Es gibt hier so wenig Grün«, sagte sie.
Ihre Augen wanderten über die wurmstichigen Balken über ihren Köpfen, die bröckelnden und rußverschmierten Mauern.
»In Russland habe ich mich um unseren Gemüsegarten gekümmert, und auch in Norwegen hatten wir Blumen und Gras vor dem Haus.«
»In den Straßen stehen doch alte Bäume«, erwiderte Thilo verwundert, der nie etwas anderes gekannt hatte als ein Leben in der Stadt. »Und was an Befestigungsanlagen damals niedergerissen wurde, ist jetzt auch grün bepflanzt.«
Katya lächelte. »Das ist nicht dasselbe. Ich vermisse es direkt vor meinem Fenster.«
Thilos Augen hellten sich auf.
Zwei Tage später, Katya schrieb gerade an Johann Silberberg, klopfte es an der Wohnungstür. Überrascht sah sie Thilo an, der mit einer Kiste voller Topfpflanzen vor ihr stand. Wie er den Kopf zwischen seine breiten Schultern zog, wirkte er unsicher.
»Darf ich hereinkommen?«
Katya folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er die Tontöpfe, sichtbar alt mit ihren Wasserrändern und Salzkrusten, auf die Fensterbank stellte.
»Ich habe mich daran erinnert, wie meine Mutter früher Blumen und Kräuter am Fenster gezogen hat. Das sind ihre Töpfe, vom Speicher geholt und neu bepflanzt. Hat auch nur ein paar Groschen gekostet«, fügte er eilig hinzu.
Katya betrachtete den kleinen Garten, den Thilo ihr in die Wohnung gebracht hatte, schon erste rote, blaue und weiße Blüten im Grün.
Sie legte die Hand auf seinen Unterarm. »Danke, Thilo.«
Unter dem lichtblauen Strahlen ihrer Augen errötete Thilo.
25
Überlaut tickte die Uhr in der guten Stube der Pohls und trieb Hennys nervösen Herzschlag noch weiter an.
Hennys Zunge drückte sich von innen gegen die Wange, während sie über den Rand der Teetasse zu Christian schielte.
Ratlos wirkte er, nachdem sie seine freundlichen Bemerkungen zur Einrichtung der Pohls, dem Wetter und Hennys Kleid jeweils nur mit einem Nicken beantwortet hatte, genauso wie seine Frage nach dem Befinden von Frau Pohl und Herrn Pohl.
Sie wusste nicht mehr, was sie sich dabei gedacht hatte, Christian zu sich nach Hause einzuladen, während ihr Vater im Kontor war, ihre Mutter zum Tee bei Frau Hinrichs und die Minna längst damit fertig, die Böden zu schrubben, und zu ihren fünf Kindern nach Hause gegangen.
Dabei war es ihr wie eine fabelhafte Idee erschienen, Sonntag im Ruderboot auf der Alster, ihre Hände in Christians. Ihn für ein paar Stunden ganz für sich zu haben, ohne Dutzende von Augen, die sie beobachteten, Dutzende von Ohren, die sie belauschen konnten.
Henny hatte geglaubt, freier zu sein, allein mit Christian, in ihren vertrauten vier Wänden. Von sich hatte sie erzählen wollen, von all den Dingen über das Leben, die ihr sooft im Kopf herumgingen und für die ihre Mutter nie ein Ohr hatte.
Jetzt saß sie nur stumm neben ihm und bekam den Kloß in ihrem Hals auch mit großen Schlucken Tee nicht hinuntergespült. Den Kuchen auf ihrem Teller hatte sie gar nicht erst angerührt.
Sie hätte sich auch nicht zu ihm auf das Kanapee setzen sollen, sondern auf einen der Stühle; jetzt noch den Platz zu wechseln wäre ihr jedoch albern vorgekommen, zumindest unhöflich.
Nicht einmal in die Augen sehen konnte sie ihm.
Vom Brook drang Hufgeklapper herauf und Räderknirschen, Stimmen und Schritte, Henny hatte das Fenster offen gelassen. Wie um der Welt dort draußen zu beweisen, dass sie nichts zu verbergen hatte.
Schallendes Gelächter flog von unten herein, und Henny schoss das Blut ins Gesicht.
Das Ticken der Uhr schärfte sich wie ein ungehaltenes Schnalzen.
Henny stellte ihre Tasse ab und holte tief Luft.
»Denk nicht schlecht über mich, Christian.«
Sie spürte seine Augen auf sich, erstaunt.
»Warum sollte ich schlecht über dich denken?«
»Weil ich dich zu mir eingeladen habe, obwohl meine Eltern nicht da sind.«
Christians Blick wanderte durch die gediegene Stube mit ihren Möbeln aus Eiche und Nussbaum, den gehäkelten Spitzendeckchen, bis ihm dämmerte, dass er nicht mehr darauf warten brauchte, dass Frau Pohl hereintrat und ihn begrüßte.
»Ich wollte mit dir allein sein«, gestand Henny leise.
Fragend sah er sie an.
Das Gesicht unter den buttergelben Korkenzieherlocken hochrot, knetete sie die Finger im Schoß auf ihrem weißen Sommerkleid.
»Weil ich dich gernhabe, Christian.«
»Du bist auch eine nette Deern, Henny Pohl«, erwiderte er behutsam.
Vorsichtig hob Henny den Kopf, und unter Christians Lächeln zog ein Strahlen über ihr Gesicht.