Christian kippte den nächsten Schnaps hinunter; sein elendes Gefühl konnte er damit jedoch nicht wegspülen.
Innerhalb weniger Augenblicke schien Katya all ihr Deutsch vergessen zu haben, als sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa saß und Christian zuhörte, der vor ihr stand.
Ihre Augen wechselten fortwährend die Farbe, bis nur noch ein mattes Blau übrig geblieben war, fast farblos.
Thilo tat es weh, sie so zu sehen; er war an der Zimmertür stehen geblieben, um sich zu versichern, dass Christian nicht feige einen Rückzieher machte. Sich nicht ein bequemes Schlupfloch offen hielt.
Nur allmählich verstand Katya, was Christian ihr zu sagen versuchte. Dass er heiraten würde. Ein anderes Mädchen. Vor einer Woche hatte er um ihre Hand angehalten, heute Morgen hatten ihre Eltern zugestimmt.
»Es tut mir leid«, hörte sie ihn sagen, da hatte sie schon den Kopf abgewandt.
Er ließ nicht einmal Raum für Zweifel. Für widerstreitende Gefühle oder Unsicherheit. Er hatte seine Entscheidung getroffen, ohne sie.
Von dem Tag an, als Katya einen Fuß in den Laden gesetzt hatte, hatte Christian ihr Herz umschmeichelt und es jetzt in seiner Faust zersplittert wie ein zartes Gespinst aus Eisnadeln.
Erst als sich Christians Schritte entfernt hatten und die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, konnte sie wieder atmen.
Auf der anderen Seite der geöffneten Fenster schob sich eine Wolke vor die Sonne und raubte der Welt für einen Moment alle Konturen.
Sie wünschte, Grischa wäre hier.
Katya fragte sich, wer dieses Mädchen war. Wie lange es sie schon gab, im Hintergrund, während Katya sich von Christian umworben und begehrt fühlte. Nur eine Zerstreuung, eine lockende Versuchung durch ihre Fremdartigkeit, aber nichts von Dauer.
Johann Silberberg hatte ihr einmal von Meteoren erzählt. Harmlos und wunderschön als Sternschnuppen, hinterließ ihr Einschlag auf der Erde nichts als verbrannten Boden, brachte Dunkelheit und Kälte über die Welt.
Christian war ihr Meteor.
Wie ein Krampf lief es durch sie hindurch.
Katya fuhr zusammen, als sich das Sofapolster unter Thilos Gewicht senkte; sie hatte angenommen, er wäre mit Christian gegangen. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie zuckte zurück; als er sie am Arm fassen wollte, schlug sie nach ihm.
Thilo umschlang sie fest und presste sie an sich, und ihr Widerstand erlahmte, als etwas in ihr kaputtging.
Seine Hemdbrust wurde feucht, vielleicht von Katyas Tränen, vielleicht von ihren heißen Atemzügen.
Er wusste, wie es war, wenn einem die Gefühle für einen anderen Menschen unter die Haut krochen und nach und nach in die Adern tröpfelten. Jemanden mehr als alles andere auf der Welt zu begehren und ihn doch niemals haben zu können.
Ihm ging es so, wenn sich Grischas braune Augen auf ihn richteten, die Sonne darin goldene Funken entzündete und sein Gegenüber mit einem warmen Schimmer umgab. Sobald er Grischas Stimme hörte, tief und voll und kehlig, und er sich einfach nur darin einhüllen wollte. Wenn Grischa ihn mit seinem schiefzahnigen Jungenlachen ansah, das ihn noch männlicher machte.
Jedes Mal, wenn Grischa sich abends vom Tisch erhob, um die Nacht wieder irgendwo im Bett eines Mädchens zu verbringen, oder er sich auf der Straße nach einem hübschen Gesicht, einem Paar strahlender Augen umdrehte, litt Thilo stumm vor sich hin.
Auch jetzt, während er Katya einfach nur festhielt, ließ er nichts davon verlauten.
Dies war Katyas Kummer, nicht seiner.
26
Der glücklichste Tag im Leben einer Frau sei ihr Hochzeitstag, das hatte Henny immer wieder gehört. Unter dem klarblauen Himmel dieses Augusttags, in satter Sonne und frischem Wind, wusste sie, dass dem auch wirklich so war.
Dabei hätte sie anfangs nicht geglaubt, dass es jemals darauf hinauslaufen würde. Nachdem Mathilde Pohl früher nach Hause gekommen war, weil Frau Hinrichs plötzlich über Kopfschmerzen geklagt hatte, und Henny mit Christian Petersen überraschte. Auf dem Pohl’schen Kanapee, das noch dazu. Nach der Schelte ihrer Mutter, den Vorhaltungen ihres Vaters; nach all den Tränen, die Henny geweint hatte, weil sie jetzt nicht mehr zu Kathi oder Betty durfte, geschweige denn zu Frieda, und weil sie Christian sicher niemals wiedersehen würde.
Dann war das Wunder geschehen. Christian hatte bei Heinrich Pohl um ihre Hand angehalten, und nach kurzer Bedenkzeit hatten die Pohls ihre Erlaubnis gegeben. Wenn auch zähneknirschend; ein Gemischtwarenhändler war nicht gerade die beste denkbare Partie, aber immerhin besser als nichts. Die Petersens an sich galten ja als ehrbare Leute, und Hennys Betteln und Schmeicheln und Toben, begleitet von noch mehr Tränen, tat dann noch ein Übriges.
Mit Feuereifer kümmerte sich Henny um ihre Aussteuer und das Brautkleid. Aber das Allerschönste in diesen zwei Monaten waren die heimlichen Küsse mit Christian im Korridor, die nun nicht mehr ganz so heimlich zu sein brauchten, sie waren ja schließlich verlobt.
Dass Frieda Brandt kein Wort mehr mit ihr redete, weil Henny, ausgerechnet Henny, sich Christian Petersen unter den Nagel gerissen hatte, konnte sie verschmerzen. Und auch, dass das Mittagessen nach der Trauung in Sankt Katharinen eher steif geriet. Im oberen Saal des Baumhauses, nicht nur ein renommiertes Gasthaus mit Konzertsaal, sondern auch Zollstelle und Schifferbörse, aus den Fenstern und von der Terrasse mit malerischem Blick auf die Schiffe im Hafen. Wie es sich eben für die Tochter eines Schiffsmaklers gehörte, außerdem schätzte Heinrich Pohl das Angebot exklusiver Biersorten, die es sonst nirgends in der Stadt gab.
Henny war ehrlich erleichtert, als die Lübecker Verwandtschaft nach dem Kaffee aufbrach, es würde ja morgen wieder ein langer Tag werden in der unbequemen Postkutsche; Onkel Carl mit seiner Familie war gar nicht erst erschienen. Auch die schmallippige Verabschiedung ihrer Eltern am Brook störte Henny nicht. Bei Christian eingehakt, konnte sie es kaum abwarten, mit den Petersens und den Voronins weiterzuziehen, mit Kathi Bellheim und Betty Freese, deren Eltern sie noch im Baumhaus glaubten.
Gleich hinter dem Brook, an der Kibbeltwiete, setzten sie ihre Feier fort. In einem Wirtshaus, in dem sich ein paar zweifelhaft aussehende Frauenzimmer zwischen Hafenarbeiter und Schauerleute gemischt hatten. Sobald sie als Hochzeitsgesellschaft erkannt waren, gratulierten die Schlosser, Korbflechter und Schreiner Arno Petersen und Christian mit Handschlag. Tische wurden zur Seite geschoben und die Fiedel ausgepackt, an so einem Tag musste man doch auf die Pauke hauen.
Henny vermisste ihre Eltern keinen Augenblick, sie hätten ihr nur den ganzen Spaß verdorben. Und Henny hatte Spaß. Jetzt, als verheiratete Frau, durfte sie endlich tun, wozu sie Lust hatte, Bier trinken und sogar Schnaps, laut singen und wild tanzen, und Henny genoss es in vollen Zügen.
Katya drückte sich in eine Ecke des von Stimmen und Musik und Feierfreude bebenden Schankraums, um sich vor den angetrunkenen Männern zu verstecken, die mit ihr tanzen wollten. Womöglich würde Christian sie noch auffordern, wie man es bestimmt tat auf seiner Hochzeit.
Während Henny im Arm eines vierschrötigen Kerls vorübergaloppierte, tanzte Christian mit Hennys Freundin Kathi, seine Augen im sonnenbraunen Gesicht blau blitzend, ganz der strahlende Bräutigam.
Ein Fremder war er geworden, mit Henny. Lauter, polternder als der Christian, den sie gekannt hatte, von einer fast prahlerischen Männlichkeit, ein Hahn auf der Balz.
Der Frühling, in dem sie geglaubt hatte, er würde einmal der Ihre werden, schien im Rückblick wie aus einem anderen Leben. Vielleicht eine List ihrer Seele, um ihren Kummer zu lindern.
Silja Guðmundsdóttir hatte tröstende Worte für Katya gefunden, die ihr Heimweh neu entfachten. Nach Tromsø zurückzugehen, alles hier zurückzulassen und Christian nie wiederzusehen, ihn vielleicht eines Tages sogar zu vergessen erschien ihr wie eine Rettung. Doch damit würde auch ihr Traum von dem Handel mit Eis zerplatzen.