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Sanft gluckernd spiegelte der See den Nachthimmel wider, und wie schlaftrunken riefen die Wasservögel lockend in die Finsternis. Umso ungestümer kam Grischa sein eigener Herzschlag vor, von fiebrigem Glück und bangem Mut.

Solange er sich am Wasser hielt, würde er nicht nur zu trinken haben und sich von dem Reichtum an Fischen ernähren können – das Wasser wies ihm auch den Weg. Erst das Ufer des Sees, dann der Fluss, der darin seinen Ursprung hatte. Ihm würde Grischa folgen, immer in Richtung der untergehenden Sonne, bis nach Sankt Petersburg hinein. Ein Marsch von einigen Tagen, vielleicht auch Wochen; darin waren die Erzählungen des Großvaters ungenau gewesen.

Die Nacht brachte eine verborgene Seite der Welt hervor. Gewichtig und still, aber keineswegs tot. Jedes Flüstern und Rascheln hatte etwas Dringliches und wechselte dabei ständig die Richtung, aus der es kam. Sogar die Luft war eine andere, von einer krautigen Schärfe, auf Grischas Zunge wie ein Vorgeschmack der Freiheit. Umso kräftiger schritt er aus, das Bündel an einem Stock geschultert.

Unter den Geräuschen des Waldes blieb ein Knistern beharrlich hinter ihm. Federleicht und nicht ganz gleichmäßig, ließ es sich auch nicht abschütteln. Unwillkürlich zogen sich seine Schulterblätter zusammen.

Er war nicht allein. Etwas hatte sich an seine Fersen geheftet wie ein vergessener Gedanke. Umso spürbarer, je länger er unterwegs war. Ein Schatten, der sich hinter ihm verdichtete, aber nie näher kam.

Grischa schlüpfte lautlos ins Gebüsch und streifte das Bündel langsam vom Stock. In Augenblicken wie diesem hatte er auf sein Messer vertraut; jetzt musste der Stock genügen. Beide Hände fest um das Holz geschlossen, wartete er mit angehaltenem Atem.

Ein kleiner Schatten war es, der sich durch das hohe Gras des Ufers schob. Ein blasses Gesicht, Augen, die suchend hin und her huschten.

Grischa brach aus den Sträuchern hervor und packte seine Schwester am Arm.

»Warum läufst du mir nach?«

Katya zuckte nicht einmal zusammen, ruhig und ernst war sie. »Wo gehst du hin?«

Beschämt über seine eigene Grobheit, ließ Grischa ihren Arm wieder los. »Fort von hier.«

»Ohne mich?«

Im Nachtlicht waren ihre Augen dunkle Brunnen.

»Ich hole dich nach, Katyuscha. Versprochen.«

Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte sie leicht am Arm; unwillig zog Katya die Schulter zurück.

»Wann?«

Fünf Jahre würde er nicht mehr zurückkehren können, als Verbrecher gesucht. Ein Geächteter, den jeder im Russischen Reich festsetzen durfte, um ihn der Gerichtsbarkeit zu überstellen. Erst nach diesen fünf Jahren würde seine Flucht vergeben sein, und er wäre ganz und gar ein freier Mann.

Sofern er es jemals bis nach Sankt Petersburg schaffte, ans Meer.

»Wann, Grischa?«

»Sobald ich kann.«

Eine Antwort zwischen Irgendwann und Nie und wie Wasser in Katyas Händen.

»Ich komme mit.«

»Das geht nicht! Der Weg ist zu weit für dich. Lauf wieder nach Hause, Katyuscha.«

Katya hatte nicht gewusst, dass Zorn so heftig über einem zusammenschlagen konnte, bis man fast den Boden unter den Füßen verlor.

»Du kannst mich nicht zurücklassen!« Sie stieß ihn vor die Brust. »Hörst du, Grischa? Du kannst mich nicht hierlassen!«

»Ich kann dich auch nicht mitnehmen!« Er brüllte fast.

Ein heiseres Echo kam aus den Kehlen der Vögel, die mit heftig schlagenden Flügeln das Wasser aufschäumten.

Katya wich zurück, ihre Augen schmal; die letzte Warnung einer Katze vor dem Krallenhieb.

»Wenn du gehst, gehe ich auch.«

Sie wirbelte herum, stürmte an ihm vorbei, und ihre Silhouette stanzte zwischen den Gräsern den Weg aus, den Grischa allein hatte nehmen wollen.

Grischa stieß einen Fluch aus und hieb auf Blätter und Gräser ein.

Mit Katya würde er ungleich länger nach Sankt Petersburg brauchen. Und selbst wenn ihn auf dem Gehöft niemand vermisste, nach Katya würden sie bestimmt suchen. Seine einzige Chance, sie zur Umkehr zu bewegen, wäre, mit ihr zusammen nach Hause zurückzukehren. Wo sie sicherlich auf der Hut bleiben würde, damit er sich nicht noch einmal ohne sie davonstahl.

Falls er den Mut dafür noch einmal aufbrächte.

Voller Ingrimm klaubte er schließlich sein Bündel aus dem Gebüsch und stapfte hinter dem Schatten seiner Schwester her.

4

Der Wind strich über Grischas von der Sonne beschienenes Gesicht. Er kniete am Ufer des Sees und trank gierig aus der hohlen Hand.

»Grischa«, hörte er Katya flüstern.

Er sah nicht auf. Seit er sie in der vergangenen Nacht zwischen den Gräsern eingeholt hatte, strafte er sie mit Schweigen. Katya war ebenfalls stumm geblieben, während sie sich seit Tagesanbruch abgemüht hatte, mit ihm Schritt zu halten.

Keinen Fingerbreit war er von seinem Plan abgewichen, bis zur nächsten Nacht zügig weiterzuwandern, um möglichst viel Entfernung zwischen sich und das Gehöft zu bringen; er konnte auch starrsinnig sein. Nur wenn er mit einem Blick über die Schulter festgestellt hatte, dass Katya zu weit zurückgefallen war, war er langsamer gegangen. Und nur wenn ihre Wangen glühten, ihre Schritte unsicher wurden, hatten sie eine Rast eingelegt, so wie jetzt.

»Grischa. Schau doch!«

Endlich hob er den Kopf.

Ein paar Armlängen von ihm entfernt tapste ein braunes Fellknäuel auf das Wasser zu. Ein Bärenjunges, hinter dem gleich darauf ein zweites aus dem Ufergras hervorpurzelte.

Im Wald hatte er schon oft Bären gesehen, aber noch nie so nahe; wahrscheinlich hatten der Lärm der Äxte, die dröhnenden Stimmen der Männer sie dazu bewogen, einen großen Bogen zu schlagen. Und noch nie hatte Grischa Bärenkinder gesehen.

Dass Bärinnen mit Jungen unberechenbar waren, das hatte man ihm von klein auf eingebläut. In einem Frühling wie diesem waren einmal zwei Burschen aus dem Dorf von einer Bärenmutter angefallen worden; den einen hatte sie zerfleischt, den anderen mit ihren Klauen derart zugerichtet, dass er ein Krüppel geblieben war, nur noch ein Auge in den Überresten seines Gesichts, der Arm eine nutzlose Hülle für die zersplitterten Knochen und zerfetzten Muskeln.

Grischa fasste nach seinem Stock und zog sich auf die Füße.

In Wellen kräuselte sich raschelnd das Schilf, und ein massiger Tierleib schob sich daraus hervor. Das Fell zottig nach dem langen Winter, blinzelte die Bärin auf das Wasser hinaus und nahm mit bebenden Nüstern Witterung auf.

Einen atemlosen Augenblick standen sie einander gegenüber, die Bärin mit ihren Jungen und die beiden Menschenkinder, abschätzend und lauernd.

»Bleib hinter mir, Katya.«

Die Ohren angelegt, schwenkte die Bärin den Kopf hin und her, drohend und doch unschlüssig; ihr Schnauben klang verächtlich.

Katya setzte auf ihre Erfahrungen, die sie bei ihren Begegnungen mit Bären gemacht hatte, wenn sie Beeren und Nüsse und Pilze gesammelt hatte – am besten ging man ihnen aus dem Weg.

»Hier entlang.« Ihre Finger krallten sich in Grischas Jackenärmel. »Langsam. Und mit dem Wind. Dann verliert sie unsere Spur.«

Grischa ließ sich von seiner Schwester durch das Schilf zerren, einen angestrengten Schritt nach dem anderen. Auf Zehenspitzen, mit ausgedörrtem Mund und schweißfeuchten Händen, der Pulsschlag ein Pochen in der Kehle, ein Rauschen in den Ohren.

Erst als sie sich in sicherer Entfernung wussten, rannten sie los, und ihre zittrige Erleichterung flog als befreites Auflachen zum Himmel hinauf.

Heiterkeit stahl sich immer wieder in ihre Blicke, doch obwohl Grischa seine Schritte denen seiner Schwester anpasste, ihr unterwegs über einen umgestürzten Baum half, blieben sie beide stumm. Als hätten sie mit dem Gehöft auch die alte Vertrautheit hinter sich gelassen, fanden sie keine Worte füreinander.

Etwas Unausgesprochenes stand zwischen ihnen, während sie weiter das Ufer des Sees entlangwanderten.

In der Dunkelheit verbreitete das Feuer einen warmen Schein.

Grischa schnitt für sich und seine Schwester je ein Stück von dem Käse aus seinem Bündel herunter und wischte die Klinge an seinem Jackenärmel sauber. Es kostete ihn Überwindung, das Schweigen zu durchbrechen.