»Wenn wir schon über die Zukunft sprechen«, begann er betont langsam. »Jetzt, da Christian sich verheiratet hat …«
In sein Zögern hinein drangen Topfgeklapper und fröhliches Trällern; Henny fing mit den Vorbereitungen für das Abendessen an.
Natürlich war sie jetzt die Frau im Haus, die Küche ihr Reich, das sie bis in den letzten Winkel ausfüllte. Thilo konnte nur raten, wie es für Katya sein musste, dass Henny sie von ihrem Platz verdrängt hatte, in jeder Hinsicht.
Er vermisste die Abende, an denen sie alle zusammen hier am Tisch gegessen hatten, anstatt wieder getrennt oben und unten. Fast schämte er sich dafür, dass ihm das glückliche Los zugefallen war, weiter bei Katya zu essen, die ein bisschen fremdländisch und würziger kochte, mit viel Zwiebeln; Pfeffer hatte sie erst in Norwegen kennengelernt und verwendete ihn reichlich. Überhaupt war es oben ruhiger als hier mit Henny, die in einem fort schnackte und vor sich hin sang, wenn sie nicht mit Christian turtelte. Eine Art von Frieden, die Thilo sehr genoss.
Wäre da nicht Grischa gewesen.
Arno Petersen legte eine Hand auf den Stapel Dokumente.
»Ich habe euch das unterschrieben, weil ich davon überzeugt bin, dass ihr Erfolg habt. Ohne irgendwelche Bedingungen. Nur …«
Es schien ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden.
»Nichts gegen Henny. Ist eine feine Deern, kümmert sich gut um alles und hat unseren Christian von ganzem Herzen lieb. Aber Katya …«
Versonnen lächelte er vor sich hin, einen beinahe schelmischen Glanz in den Augen.
»Die ist etwas Besonderes. So eine findest du nicht an jeder Ecke, Junge. Nicht in Hamburg und auch sonst nicht. Noch ein bisschen jung, aber in zwei oder drei Jahren …«
Thilo hob die Brauen.
Arno Petersen stemmte sich mit Hilfe seines Stocks in die Höhe und legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes.
»Versprich mir nur, dass du mal darüber nachdenken willst, ja?«
Das Kissen im Rücken, hatte Thilo sich im Lampenschein auf seinem Bett ausgestreckt, noch in Hemd und Hose, aber schon barfuß.
Das Gespräch mit seinem Vater ging ihm nicht aus dem Sinn, seit Tagen nicht. Doch alles, woran er dabei denken konnte, war Grischa.
Dieses Lächeln, als sie im Wirtshaus die Hochzeit von Henny und Christian gefeiert hatten und Thilo den Brautstrauß fing. Ein wissendes Lächeln, so kam es Thilo im Nachhinein vor; als ob Grischa etwas über Thilo ahnte, was ihm selbst verborgen geblieben war.
Thilos Gesicht wurde heiß, wenn er an dieses Lächeln dachte, sein Herzschlag ungleichmäßig und stolpernd.
Eines der Bücher in der Hand, die mit nach oben umgezogen waren, beobachtete er verstohlen, wie Grischa sich Stiefel und Socken von den Füßen pellte, das Hemd über seinen Kopf zog, dann im Zimmer umherging. Die Schatten, die er dabei an die Wände warf, schienen immer noch ein Teil von ihm selbst zu sein. Eine dunkle Energie, die zu mächtig war, als dass sie in seinem Körper Platz gefunden hätte.
Thilo sah ihm gern zu. Dem Spiel seiner Muskeln und dem des Lichts auf seiner Haut. Seinen kraftvollen und geschmeidigen Bewegungen. Er wusste selbst nicht, was davon Neid war und was Begehren, ein Buch in seinem Schoß immer gleichermaßen ein Vorwand wie ein Schutzschild, der verbarg, was er dabei empfand.
Thilo fragte sich, wie Grischa ein solcher Mann hatte werden können, im Einklang mit sich, der Welt, dem Leben, und warum ihm dies nie gelungen war.
»Trägst du es Christian eigentlich nicht nach?«, fragte er ihn. »Wegen Katya?«
Grischas ausladende Schultern hoben und senkten sich, während er seine abgelegten Kleidungsstücke einsammelte und in den Korb für die Wäsche warf.
»Natürlich nehme ich es ihm übel, dass er ihr wehgetan hat. Dafür hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht und dazu noch ein paar Rippen gebrochen.«
Er trat an die Wasserschüssel unter dem Spiegel und spülte sich den Nacken ab, wusch sich unter den Achseln. Rinnsale liefen über seine Schulterblätter, das Rückgrat hinab.
»Nur hätte das nichts geändert. Ich hatte mir schon gedacht, dass er nicht auf sie warten würde. Katya ist zu gut für ihn, und das weiß er auch. Mit Henny ist er besser dran.«
Feucht klebte das Haar auf seiner Brust, prustend rieb er sich mit der nassen Hand über das Gesicht.
»Trotzdem behandelst du ihn wie einen Freund«, bohrte Thilo nach.
Wasser tropfte aus seinem getrimmten Bart, als Grischa sich aufrichtete und Thilo über die Schulter erstaunt einen Blick zuwarf.
»Er ist auch mein Freund. Und mein Geschäftspartner. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.«
Thilo nickte, nur halb überzeugt, und versenkte den Blick wieder in sein Buch.
Grischa stützte sich auf den Waschtisch und musterte Thilos Spiegelbild.
Im Lauf der Jahre hatte er eine sichere Menschenkenntnis erworben, das blieb nicht aus in der Enge eines Schiffs. Bei Thilo kam er damit nicht weit.
Zurückhaltend zuerst, schroff und manchmal barsch, hatte Thilo sich als zuverlässiger Freund erwiesen, für Grischa und vor allem für Katya. Ein gutes Herz schien er zu haben und eine treue Seele zu sein, ein kluger Kopf sowieso.
Trotzdem fehlte etwas.
Als ob Thilo mit Gewalt ein Stück seines Wesenskerns abgetrennt und in sich vergraben hätte. So tief, dass er selbst nicht hingelangte. Grischa konnte nur vermuten, dass es das war, was bei ihm ab und zu als Unsicherheit durchschimmerte, unter seiner augenscheinlichen Ruhe, seiner ausgeglichenen Art.
Grischa beugte sich über die Waschschüssel und spritzte sich erneut Wasser ins Gesicht.
Jetzt, mit neunzehn Jahren, fuhr Grischa noch immer gern zur See und musterte so schnell wie möglich wieder an, kaum dass er ein paar Tage hier war, der Heuer und der Erfahrung wegen.
Er hatte jedoch allmählich genug davon, anderer Leute Schiffe zu steuern, anderer Leute Weizen nach England zu bringen, deren Eisen und Tee und Kaffee von dort nach Hamburg. Das Schlimmste waren die Kohlenfrachter; den schwarzen Staub schien er nicht mehr aus den Poren zu bekommen, so gründlich er sich auch nach seiner Heimkehr schrubbte, schlimmer als der Gestank von Waltran früher.
Wässriges Eis, das schon schmolz, wenn man es nur ansah, gab es in England für drei Pence das Pfund; er hatte sich eingehend erkundigt. Besseres und damit haltbareres Eis war entsprechend teurer, besonders in diesem Jahr. Der Winter war mild und nass gewesen, es hatte nicht lange genug gefroren. Doch auch der Sommer war verregnet, und niemand auf der Insel schien Eis groß zu vermissen.
Selbst in einem heißen Sommer müssten sie Hunderte von Pfund an Eis verkaufen, um umgerechnet ein paar Mark Umsatz zu machen; dementsprechend brauchten sie ein großes Schiff, das wiederum viele zupackende Hände benötigte.
Aber das Risiko würde sich lohnen, das spürte er mit jeder Faser. So sicher, wie er den Wind spürte, den Regen und den Schnee.
Wie er jetzt Thilos Blick auf seinem bloßen Rücken spürte. Er hob den Kopf.
Im Spiegel schlug Thilo die Augen nieder. Das Lampenlicht schien seine Wangen glühen zu lassen.
Grischa wollte endlich sein eigener Herr sein. Mehr Zeit mit Katya verbringen, bevor sie ganz erwachsen war.
Mehr von Thilo wollte er sehen.
Dieses schöne Gesicht, mal wie aus Alabaster geschnitten, dann wieder wie mit energischen Händen aus glattem Wachs modelliert. Wenn die Sonne sich an seinen Eiskristallwimpern brach. Diese Augen, die mal hart blickten wie Kiesel, dann wieder weich wie Regenwolken. Seine bedächtigen Bewegungen, als ob er dem breitschultrigen, schmalhüftigen Bau seines Körpers nicht traute, nicht der Kraft, die in seinen Muskeln steckte.
Grischa rieb sich mit einem Tuch trocken.
»Was liest du da?«
Thilo blinzelte auf die Seiten vor sich, er hatte keine Ahnung.
»Nichts Besonderes.«
Grischa zögerte.
Auf dem Wasser liebte er Männer, an Land Frauen. Mit Ausnahme von Hauke, der jedoch auf seiner wellenumtosten Insel, mit den Skeletten der Boote vor seiner Kate, eher wie ein Meereswesen schien denn wie ein Bewohner festen Landes.