»Sie sehen auch gut aus, Herr Silberberg«, erwiderte Katya mit einem Lachen.
Bis auf einige wenige graue Haare an den Schläfen mehr, schienen die drei Jahre spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Der Bart, den er sich hatte wachsen lassen, stand ihm.
»Einfach Johann, bitte. Wir begegnen uns jetzt ja in jeder Hinsicht auf Augenhöhe.«
Einer der einheimischen Männer trat zu ihnen, das Gesicht eckig und von Wind und Wetter abgeschmirgelt, die Augen von silbrigem Blau wie das Wasser eines Fjords.
Kumpelhaft packte Johann Silberberg ihn bei der Schulter.
»Das ist Harri. Mehr oder weniger das Oberhaupt der Leute an diesem kleinen Flecken Erde.«
Feine Linien falteten sich unter Harris Augen auf, als er lächelte.
»Du musst Katya sein. Das Eismädchen. Herzlich willkommen.«
Weich und fließend war seine Aussprache, am Gaumen über seine Zunge gleitend.
Ringsum begann über Sprachgrenzen hinweg ein großes händeschüttelndes Bekanntmachen, gefolgt von einladenden Gesten in die Häuser, in die sich dann nach und nach die Besatzung der Albatros zerstreute.
»Lass uns reingehen.«
Wie selbstverständlich legte Johann Silberberg den Arm um Katyas Schultern.
»Die Gastfreundschaft hier ist legendär.«
Mit so vielen Menschen wurde es eng in Harris Hütte, außen ebenso mit Tierfellen bespannt wie innen. Gemütlich war es, als sie sich am Tisch zusammenzwängten, im Schein des Feuers, über dem Fleischstreifen zum Trocknen hingen. Die aufgefädelten Pilze und das Blöken der Schafe im benachbarten Stall erinnerten Katya an ihre Kindheit in Russland, während die Soße aus Multbeeren, die Harris Frau Birra und ihre älteste Tochter Nasti zu Rentierbraten und Fladenbrot auf den Tisch stellten, nach der Zeit ihres Heranwachsens in Tromsø schmeckte.
Lebhaft ging es zu bei Tisch, Johann Silberberg kam kaum zum Essen, da er fortwährend erzählte und von einer Sprache in die andere übersetzte.
Christian hörte nur mit halbem Ohr zu, er konnte die Augen nicht von Katya abwenden.
Das war nicht das scheue Mädchen, das er in Hamburg kennengelernt hatte. Offener war sie hier in Norwegen, selbstsicherer. Das hatte er schon auf dem Schiff ein paarmal gedacht, nur war er dort zu beschäftigt gewesen, mit weichen Knien und zittrigen Händen in der Takelage herumzusteigen, um mehr als einen Seitenblick auf sie werfen zu können. Die schwankenden Masten, die beweglichen Seile bedeuteten für ihn eine ungleich größere Herausforderung als die Balken und Dächer, über die er als Junge geklettert war. Vielleicht war die Schwerkraft heute für ihn auch eine andere, als ausgewachsener Mann.
Lachend und mit einem Leuchten auf dem Gesicht saß Katya zwischen diesen fremden Menschen, mit leidenschaftlich glänzenden Augen. Als hätte die fremde Sprache ihr die Zunge gelöst.
Christian irritierte ihre Vertrautheit mit diesem Herrn Silberberg, der mindestens vierzig Jahre alt war. Schwer zu schätzen mit seiner von Kälte, Sonne und Wind gegerbten Haut und reichlich sonderbar, die Karikatur eines verschrobenen Forschers.
Mit dem Beerenpunsch nach dem Essen saß Katya fast auf Silberbergs Schoß, als sie sich zusammen über eine grobe Skizze der Gegend beugten.
Womöglich war Grischas kleine Schwester doch nicht so unschuldig, wie dieser geglaubt hatte, ging es Christian durch den Kopf, einen schlechten Geschmack auf der Zunge.
Katya und Silberberg debattierten angeregt mit Harri, seinem Sohn Mokci und Nastis Mann Ailo, alle mit Augen wie Wasser und Eis, Haaren wie sommergebleichtes Gras; ab und zu rief Grischa etwas dazwischen.
Aufmerksam hörten Birra und ihre beiden Töchter zu, die im Hintergrund saßen und Wolle spannen oder strickten. Jaska, das jüngere Mädchen, im Gegensatz zu ihrer Mutter und Schwester die Zöpfe nicht hochgesteckt, sondern frei über den Rücken ihrer bunten Weste fallend, sah immer wieder mit offenem Mund herüber. Staunend über die Fremden, die in die Siedlung gekommen waren. Über die junge Frau mit dem Rabenhaar, die zwischen den Männern saß wie ihresgleichen und sich auch kleidete wie ein Mann.
»Harri hat uns zugesichert, dass wir auf ihre Hilfe zählen können«, erklärte Johann Silberberg. »Über den Transport des Eises mit den Rentieren hinaus. Falls wir noch Hände brauchen, die beim Schneiden des Eises mit anpacken.«
Zwei Mark am Tag hatte Grischa den Seeleuten für die Arbeit am Eis versprochen. Ein paar hatten sofort zugesagt, andere zogen es vor, lieber nichts zu tun und einfach nur die Gastfreundschaft der Leute hier zu genießen, einige weitere waren unentschlossen, warteten noch ab.
Die Aussicht auf eine Beteiligung aus dem Verkauf des Eises über den Sommer schien offenbar zu unsicher, um wirklich ein Anreiz zu sein.
»Und was wird uns das kosten?«, fragte Christian scharf dazwischen.
Verblüfft richteten sich Johann Silberbergs braune Augen auf ihn. Harris helle Brauen hoben sich.
»Umsonst werden sie das ja wohl kaum machen«, fuhr Christian fort.
Eine steile Falte über der Nasenwurzel, warf Katya ihm einen grünschillernden Blick zu, dann senkte sie den Kopf, ihre Schultern angespannt, wie peinlich berührt.
»Nicht jedes Volk schätzt die klingende Münze so hoch wie wir Deutschen, Herr Petersen.«
Sanftmütig hatte Johann Silberberg es gesagt, erst gegen Ende des Satzes war eine geschliffene Kante herauszuhören.
Mit einem schnellen Blick wollte Christian seinen Bruder auffordern, ihm beizustehen. Doch Thilo hatte sich in die Schatten an der Tischecke zurückgezogen, wo er über einem Papier mit Zahlenfolgen den Kopf mit Grischa zusammensteckte. Wann immer sich in ihr Flüstern eine Pause einschlich, erhellte ein Lächeln ihre Gesichter, wehte ein leises Lachen zu Christian herüber.
Sein Bruder hatte sich verändert. Weicher, nachgiebiger war er geworden und zeigte doch eine ganz neue männliche Stärke. Selbst sein Geruch war nicht mehr derselbe; etwas Dunkles lagerte darunter, das Christian von sich selbst kannte, seit er Nacht für Nacht zu Henny unter die Decken schlüpfte.
Als ob auch Thilo ein Mädchen gefunden hätte, das jetzt zu Hause in Hamburg auf ihn wartete.
Obwohl er nie etwas darüber verlauten ließ, noch nicht einmal andeutungsweise. Bestimmt hatte Grischa nachgeholfen; geradezu unzertrennlich waren sie geworden in den letzten Wochen, dabei hatte Christian immer geglaubt, er wäre derjenige, der sich besser mit Grischa verstand.
In diesem Moment fühlte er sich ausgeschlossen. Einsam, in diesem Raum voller Menschen.
Plötzlich vermisste er Henny, obwohl er kaum an sie dachte, seit sie sich im Hafen von ihm verabschiedet hatte, unter einer Flut von Küssen und ein paar Tränen, hinter denen jedoch aufgeregter Stolz auf ihren wagemutigen Mann funkelte.
Henny, die immer bereit war, ihn in die Arme zu schließen, damit er in ihrer weichen Wärme versinken konnte. Die keinen Widerstand kannte, keine Kanten und Ecken und noch nicht einmal eine Spur von Reibung.
Das musste es sein. Er vermisste Henny, anders konnte er sich das Gefühl der Beklemmung nicht erklären, das den Beerenpunsch auf seiner Zunge faulig schmecken ließ.
29
Die Nacht war kurz gewesen, zwischen Rentierfellen und Wolldecken. Es war noch dunkel, als sie beim Frühstück wieder zusammensaßen, über geräucherten Makrelen und Fladenbrot mit dem cremigen und milden Rentierkäse, wer mochte, mit Marmelade aus Multbeeren dazu. Und Kaffee, zum Erstaunen der Gäste, pechschwarz und stark.
Aus Bergen, erklärte Harri, während er schmunzelnd einen Löffel Rentierkäse in seinen Kaffee rührte, wie Zucker und Getreide zweimal im Jahr dort für Felle und Wolle und Fisch eingetauscht.
Im Morgengrauen stiegen sie in die Boote, mit ihrer Ausrüstung beladen und jeder mit einem Bündel des Allernotwendigsten für ein paar Tage.
Zu dieser frühen Stunde war der See von einer tintigen Schwärze, die Felswände stumme Wächter der Finsternis gegen den sich aufhellenden Himmel.