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Eine Stille, die Respekt verlangte. Im Flüsterton versuchte Grischa, der an den Rudern mit anpackte, mit Harri, Thilo und Johann Silberberg auszurechnen, wie viel Eis sie in einem solchen Boot über den See zum Schiff bringen könnten, ihre Atemzüge blasse Nebelschwaden über dem Wasser.

Katya schlüpfte aus ihrem weißen Pelzfäustling und tauchte die Hand in den See. Eisig war er, eine Kälte, die den letzten Rest Müdigkeit aus den Knochen verjagte und ihr Herz doppelt so schnell schlagen ließ.

Obwohl das Ufer an manchen Stellen glänzend verkrustet war, verriet ihr die zähe Kraft des Wassers, dass der See lange brauchen würde, bis er zufror, vielleicht länger, als der Winter hier überhaupt andauerte.

Auf der anderen Seite des Sees war es merklich kälter. Im Morgenlicht warteten schon die Hirten auf sie und riefen lachend Begrüßungen, rieben sich den Schlaf aus den Augen und hielten sich an ihren Bechern mit heißem Kaffee fest, frisch von der Feuerstelle. Hunde, die halb nach Wolf, halb nach Fuchs aussahen, jaulten ein Willkommen und bettelten hechelnd darum, den Kopf gekrault zu bekommen. Eine Handvoll Männer war damit beschäftigt, an der Flussmündung mit langen, starken Ästen und Lederbahnen das kleine Zeltdorf zu vergrößern; hier würde von nun an ihr Lager sein.

Der neue Tag enthüllte einen Wald aus kahlen Zweigen, die sich auf und ab bewegten. Über einem Boden aus weißem und braunem Fell, der sich auf schlanken Beinen ausdehnte und dann wieder zusammenzog und dabei kehlig grunzende Laute von sich gab.

Rentiere, Hunderte davon.

Neugierig reckten sie Katya die Köpfe mit den Geweihästen entgegen, wanderten dann durch den Schnee auf sie zu und beschnupperten sie eingehend. Katya musste lachen, weil die weichen Mäuler und ihr schnobernder Atem auf ihren bloßen Händen kitzelten. Zärtlich flüsterte sie mit den Tieren auf Russisch, das immer die Sprache ihres Herzens bleiben würde, streichelte ihnen über das Fell und drückte das Gesicht hinein. Weich wie frischer Schnee war es und wie lockere Ackerkrume, ihre Geweihe von der Wärme sonnengetränkten Holzes.

Eine wunde Stelle in der Brust, sah Christian ihr zu. Ein unbestimmtes Gefühl begann auf seiner Haut zu kratzen, und abrupt wandte er den Kopf ab. Johann Silberberg beobachtete ihn, die Lippen zu einem Lächeln verzogen, wie spöttisch, und Christian floh.

An Boote erinnerten die Schlitten, mit denen sie aufbrachen, von Rentieren gezogen. In einen engen Durchlass zwischen den Bergen hinein, an verschneiten Wäldern vorbei und begleitet von einem kälteträgen Fluss; eine Fahrt wie aus einem Wintermärchen.

Glücklich wie ein kleiner Junge fühlte sich Thilo, Grischa vor sich im Schlitten, von Mokci gelenkt. Grischas Kreuzbein an seinem Schritt, sein Rücken an Thilos Brust gedrückt, durchdrang Grischas Wärme noch ihre dicken Kleider. Unter den Felldecken ihre Hände vor Grischas Bauch ineinandergeflochten, brach Thilo immer wieder in ein Lachen aus, das Grischa jedes Mal aufgriff. Weil es nichts Herrlicheres gab, als unter freiem Himmel durch den Schnee zu fliegen, jung zu sein und verliebt.

»So wird es also doch noch wahr«, sagte Johann hinter Katya in Harris Schlitten. »Ich kann dir den Schnee und das Eis hier zeigen. Und du kannst mir erzählen, wie es sich für dich anfühlt.«

Über ihre Schulter warf Katya ihm ein Lächeln zu.

»Und ich sehe jetzt endlich, wo du die letzten drei Jahre verbracht hast.«

Johann gab einen zustimmenden Laut von sich.

»Hauptsächlich, ja. Ein paarmal war ich oben auf dem Hochplateau der Hardangervidda. Nicht der freundlichste Ort im Winter, vermutlich ist es nicht einmal am Nordpol so kalt und feindselig. Aber es gibt nichts Schöneres als die Seen dort, irisierend blau und türkis. Oder wenn die Wasserfälle gefrieren. Diese Zacken und Nadeln und Stacheln aus Eis. Der Sieg der Kälte über Geschwindigkeit und Schwerkraft.«

»Du weißt, wie man Sehnsüchte weckt«, neckte Katya ihn.

Hinter ihr gluckste Johann vor sich hin.

»Dann gefällt es dir bestimmt, dass ich dabei bin, ein Kompendium über Schnee und Eis zu erstellen. Mehr als zweihundert Wörter sollen die Saami allein für den Schnee haben. Rund einhundertfünfzig davon habe ich schon gesammelt.«

Er lehnte sich vor, und sein Atem war warm an ihrem Ohr.

»Slievar« , flüsterte er, gewollt verführerisch und dabei sich selbst doch hörbar nicht ernst nehmend. »Wenn der Neuschnee so trocken und fein rieselt wie Kuchenmehl.«

Ein Lachen sprudelte zwischen ihnen auf und ebbte nur langsam wieder ab.

Katya spürte seinen Blick auf sich, wie nachdenklich.

»Was ist das mit dir und Christian Petersen?«

Katya schaute zurück, wo Christian allein in Ailos Schlitten saß, das Gesicht spitz und streng wie das einer Krähe.

»Er hat eine andere geheiratet.«

Johann schwieg einige Herzschläge lang, bevor er seufzte.

»Nichts ist niederschmetternder, als zu entdecken, dass man sich das falsche Bett zurechtgeschüttelt hat. Das kann einen Mann bitter machen.«

Katya schüttelte unwillig den Kopf; der Tag war zu schön, um ihn mit Gedanken an Christian zu verderben.

Ein Strohfeuer war es gewesen. So hoch aufflammend, dass man sich leicht daran verbrannte, nichts, was einen auf Dauer wärmte. Zu diesem Schluss war sie gekommen, nach seiner Hochzeit, und in den Monaten seither war sie gut damit gefahren.

Irgendwann würde sie ihn ganz vergessen haben, davon war sie überzeugt.

Die Rentierschlitten fädelten sich nacheinander eine Steigung hinauf und fächerten sich dann in einer Ebene auf, so offen und weit, dass sich sogar die Berge dahinter kleinmütig duckten.

Katya verschlug es den Atem. Weit unterhalb des Polarkreises waren sie, und doch schienen sie sich nördlich davon zu bewegen, so leer und still war es hier im Schnee. So kalt, dass die Luft in die Haut biss und in den Wangenknochen zwickte.

Fast feindselig, wäre da nicht diese verschwiegene Ruhe gewesen. Das kaum wahrnehmbare Flüstern und Knistern langsam wachsenden Eises.

In der Ferne glänzte es, und in Katyas Händen kribbelte es, als Harri sie dorthin lenkte. Er hatte den Schlitten kaum zum Stehen gebracht, als Katya sich aus den Felldecken wickelte und heraussprang, die Beine steif vor Kälte, die Füße in den Stiefeln halb taub.

Atemwolken vor dem geröteten Gesicht, marschierte sie in langen Schritten auf den zugefrorenen See und ließ sich dann auf die Knie nieder.

Ihr Lächeln erlosch. Sie zog den Handschuh aus und rieb mit bloßen Fingern über das Eis. Schönes Eis war es, dick und klar, aber etwas daran stach ihr in die Fingerkuppen, nadelfein und scharf.

»Und?« Grischa beugte sich mit ihr über das Eis.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Katya mit einem Kopfschütteln.

Wo immer es Grischa hingezogen hatte, das Messer ihres Großvaters, ihres Urgroßvaters hatte ihn begleitet. Jetzt hielt er es Katya hin, und das Lächeln, das kurz zwischen ihnen aufglomm, erzählte eine gemeinsame Geschichte, von gemeinsamen Wurzeln.

Die Klinge schnitt durch das Eis wie durch Butter.

»Sieht gut aus«, kommentierte Grischa.

Katya hebelte die Klinge leicht an, und das Eis explodierte in einem Splitterregen.

»Ich verstehe.«

Seine Enttäuschung war deutlich herauszuhören.

Christian kam angelaufen. »Was ist?«

»Das Eis bricht zu leicht«, erklärte Grischa. »Wir suchen nach einem anderen See.«

Christian gab nicht so leicht auf.

»Hast du nicht gesagt, wir müssten dicht an der Küste bleiben, um den Transportweg kurz zu halten?«

»Das nützt uns aber nichts, wenn uns das Eis unterwegs in tausend Stücke zerspringt.«

Grischa richtete sich auf und winkte im Gehen zum Ufer, um zu signalisieren, dass sie weiterfahren würden.

Christian sah ihm nach und wandte sich dann Katya zu.

»Man kann auch zu wählerisch sein.«

Sorgsam rieb Katya die Klinge an ihrem Hosenbein trocken und ließ das Messer zuschnappen.