Aus tiefster Schwärze trieb Katya herauf und blinzelte in eine warm erleuchtete Dunkelheit hinein.
Ihr war heiß, Pelz klebte auf ihrer Haut, und doch rieselte immer wieder ein Kälteschauder durch sie hindurch. Einen Moment lang glaubte sie, sich in ein Tier des Winters verwandelt zu haben, in einen der Polarfüchse, die manchmal am Horizont vorübertänzelten, oder in ein wildes Ren.
Bis sie begriff, dass sie nackt zwischen dicken Schichten von Felldecken lag.
Alle Knochen im Leib taten ihr weh, in Ellbogen und Händen pochte es, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. Eine Wand aus Eis.
Dann fiel es ihr wieder ein.
Tief atmete sie ein und wieder aus. Ein unbelasteter, freier Atemzug, der neben ihr ein Echo fand. Suchend blinzelte sie umher, und ihr Blick traf sich mit dem Christians. In Felle eingepackt, hatten sie sie nebeneinandergelegt, damit nicht nur das Feuer in der Mitte des Zelts die beiden wärmte, sondern auch einer den anderen.
Dunkel waren seine Augen im Zwielicht, erst ein Aufzüngeln der Flammen brachte ihren blauen Schimmer hervor. Sie hatte ihn noch nie unrasiert gesehen; wild sah er mit diesen rauen Stoppeln aus, darunter schien etwas umso Verletzlicheres hervor.
»Du hast mich dort rausgeholt«, flüsterte er.
Nur ein Wirbel finsterer Schlieren war Katya im Gedächtnis geblieben, in der frostigen Bläue des Wassers. Ein Ringen um Luft und Leben und Tod und das klägliche Gefühl, versagt zu haben.
Sie deutete ein Kopfschütteln an, sogar diese leichte Regung schmerzte.
»Ich hätte uns beide beinahe umgebracht. Oder du uns. Ich weiß es nicht mehr.«
Christian konnte es immer noch fühlen. Wie Katya ihn unnachgiebig umschlungen hatte, ihre Finger tief in ihn gekrallt. Als wollte sie ihn niemals mehr loslassen.
So waren sie aus der Tiefe aufgestiegen. Ans Licht, wo sich Grischa und Thilo, Harri, Mokci und Ailo auf dem Eis ausbreiteten wie Seesterne, um Katya und Christian aus dem Wasser zu zerren.
»Nein, Katya, du hast mich gerettet. Ich erinnere mich genau.«
»Vielleicht spielt es auch keine Rolle«, wisperte sie, zu ausgelaugt, um energisch zu widersprechen.
Das Einzige, was zählte, war, dass sie es heil aus dem eisigen Wasser herausgeschafft hatten.
Nichts anderes war mehr von Bedeutung. In diesem Zelt aus Leder, vom Widerschein des Feuers rötlich erhellt.
Wie im Inneren eines Menschenherzens, das Zucken der Flammen und ihrer Schatten sein gleichmäßig ruhiger Schlag, das Prasseln und Knistern des Feuers dessen Nachhall.
»Das war dumm von mir«, sagte er leise, wie zu sich selbst, »nicht darauf zu achten, wohin ich meine Schritte setze.«
»Sehr dumm.«
Ein kaum sichtbares Lächeln ging zwischen ihnen hin und her, bevor Christian wieder ernst wurde.
»Ich mache manchmal dumme Sachen, ohne dass ich hinterher weiß, warum.«
Katya horchte auf, sah ihn aufmerksam an; er schien den Tränen nahe zu sein.
Er klang wie jener Christian, in den sie sich vor einem Jahr verliebt hatte. Als hätte das Eiswasser seine großspurige, selbstgefällige Hülle abgebeizt.
Wie ein Junge kam er ihr vor, der verzweifelt versucht hatte, das zu sein, was er sich unter einem Mann vorstellte, und sich dabei aus den Augen verloren hatte. Als ob ihm jetzt dämmerte, dass er dabei nicht nur sich selbst Gewalt angetan hatte, sondern auch anderen.
»Es war auch nicht gerade klug von mir, dir auf das Eis zu folgen.«
Damit kam sie ihm vorsichtig ein Stück entgegen.
»Aber mutig«, erwiderte er leise, mit einem sanften Vibrieren in der Stimme.
Lange sah er sie an. In seinen Augen glomm ein Leuchten auf, das sich über sein ganzes Gesicht ausdehnte.
»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
Seine Hand legte sich an ihre Wange. Als müsste er sich trotz allem versichern, dass auch ihr Herz noch schlug, wieder warmes Blut durch ihre Adern floss.
Es schien nur natürlich, dass sein Mund folgte.
Ein Kuss, der auch für Christian wie der erste war, vorsichtig und scheu. So pur und rein, dass dieser Kuss sich selbst genug war, nicht nach mehr verlangte. In dem nicht nur ihr Atem ineinanderfloss, sondern auch etwas von ihrem Wesen.
Unverfälscht von Worten und deren Fallstricken. Von einem Schweigen, an dem nichts falsch zu verstehen war.
Wie es hätte sein sollen, vom ersten Moment an, als sie einander in die Augen gesehen hatten.
Ein Kuss, in dem Katya versank und dabei leicht und schwerelos wurde.
Es hatte keine Bedeutung, dass sie beide nackt unter den Rentierfellen lagen. Nur ein Junge und ein Mädchen waren sie, die sich in aller Unschuld begegneten, jeder Gedanke an Geschlechtlichkeit an die Ränder der Nacht verdrängt.
»Das ist doch Wahnsinn, was wir beide tun«, murmelte Christian an ihrem Mund.
Und meinte all den Zorn und die Feindseligkeit, die er heraufbeschworen hatte. In Stolz und Eitelkeit und seiner Ungeduld.
Katya verlor Christian aus den Augen. Ihr Blick fing sich an der Rauchsäule des Feuers, die durch die Öffnung zwischen den Astgabeln des Zeltes in den Himmel aufstieg.
In dieser Nacht gab es nur sie beide, in der Wärme dieses Lederherzens, mitten im norwegischen Winter. Aber es würde ein Morgen geben und ein klares, kaltes Tageslicht und eine Heimkehr nach Hamburg. Wo Henny auf ihren Christian wartete, der ihr vor Gott und den Menschen Liebe und Treue gelobt hatte.
»Ja. Wahnsinnig ist es«, erwiderte sie.
Und meinte diesen Kuss, der so viel versprach und nichts davon halten konnte.
Ohne Christian noch einmal in die Augen zu sehen, wandte sie den Kopf ab und drehte sich unter den Felldecken um.
Christian betrachtete die scharfen Schulterblätter unter ihrer weißen Haut, wie gekappte Flügel. Eine neue Kälte kroch in ihm herauf, genauso schneidend wie das Wasser des Sees.
»Du hast ein Herz aus Eis, Katya.«
Katya beobachtete die Schatten, die die Flammen über die Zeltwand warfen; unheilvoll kamen sie ihr jetzt vor, wie mahnend.
Was auch immer zwischen ihr und Christian gewesen war, glich der Eisdecke, durch die sie heute eingebrochen waren. Viel zu dünn und spröde, um auch nur einen von ihnen tragen zu können, lauerte darunter nichts als Schmerz und Unglück.
»Nein, Christian. Du bist derjenige, der einen Splitter aus Eis in seinem Auge hat. Wo auch immer die Sonne sich gerade darin bricht, dahin richtest du deinen Blick. Du willst immer das, was du nicht haben kannst.«
Hielt sie weiter an ihm fest, würde sie ertrinken, das verstand sie jetzt, in einer zähen Eisigkeit, der sie nichts entgegenzusetzen hatte.
Und in diesem Moment, als sie sich erschöpft unter den Felldecken zusammenrollte und entschied, ihn loszulassen, fiel ein Gewicht von ihren Schultern, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es mit sich trug.
31
Der See lag entrindet und offen da. Obwohl er vom anderen Ufer her schon wieder auskristallisierte, würde dieses Eis keinen Bestand haben. Milderes Wetter kündigte sich an, das spürte Grischa in der Wärme, die sich in seinem Nacken ausbreitete.
Gerade noch rechtzeitig hatten sie heute die letzten Eisblöcke auf den Weg zur Küste gebracht, nach Sonnenuntergang. Für diesen Winter war es die letzte Nacht im Lager an der Flussmündung, morgen früh würden auch sie abgeholt werden und auf der Albatros die Segel setzen, gen Heimat.
Harri und Mokci waren bereits in die Siedlung zurückgekehrt; ausgehungert an Leib und Seele hatten Thilo und Grischa es in vollen Zügen ausgekostet, das Zelt für sich zu haben.
Noch aufregender durch die Hitze darin und die unmittelbare Nähe zu den offenen Flammen, nur von der Lederhülle des Zeltes von der eisigen Nacht getrennt. Noch sinnlicher durch die Rentierfelle auf der nackten Haut.
Grischas Kopf an seiner Brust, fuhr Thilo die Grate und Riefen von Grischas Körper nach. Sehniger und eckiger waren sie nach diesen Wochen harter Arbeit in der Kälte. Die Muskeln härter, von Rentierfleisch und Fladenbrot und Unmengen Kaffee genährt. Im Schein des Feuers glänzte Grischa auch nach diesem langen Winter durch ihrer beider Schweiß wie Messing, während Thilos Glieder wie Platin schimmerten.