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Doch obwohl sie vorhin noch ineinander aufgegangen waren, ihre Konturen sich fast nahtlos ineinanderfügten, schien Grischa von ihm wegzudriften. Langsam, aber unaufhaltsam. Als ob er sich jeden Augenblick auflösen und mit dem Rauch in den Himmel ziehen wollte.

Umso fester legte Thilo seinen Arm um Grischas Schultern und umfasste seine Hüfte. Diese Stelle, die er so liebte, die Haut dort von einer zarten Glätte, die Kuhle wie geschaffen, um seinen Handballen hineinzuschmiegen.

»Ich habe nachgedacht«, flüsterte er in Grischas Haare, die nach Rauch und Winterkälte rochen und wie Grischa selbst, erdig und meeressalzig. »Wenn wir das Eis mit Gewinn verkaufen und nach Abzug aller Kosten noch etwas übrig haben, könnten wir uns doch eine eigene Wohnung leisten. Nur für uns beide.«

Endlich löste Grischa seinen Blick von der verrauchten Himmelsöffnung des Zeltes.

»Wohnst du nicht gern mit Katya zusammen?«

»Doch.«

Thilo zögerte; es war nicht allein das Feuer, das Hitze in sein Gesicht trieb.

»Es ist nur … Ich frage mich, was sie denken muss, wenn sie uns hört. Nachts.«

Ein kleines Grinsen lauerte in Grischas Mundwinkel.

»Ich bin sicher, Katya weiß längst Bescheid. Und wenn es sie stören würde, hätte sie etwas gesagt.«

»Trotzdem«, beharrte Thilo mit einem Kuss in Grischas Haar. »Was denkst du darüber?«

Grischa schwieg.

Ein Liebesnest, in dem sie nackt herumspazieren könnten, wenn sie wollten. Sich lieben, wann immer ihnen danach war, auf dem Sofa, dem Tisch, im Flur, kaum zur Tür hereingekommen – eine verlockende Vorstellung.

Und doch schrak er davor zurück. Ein viel zu großer Schritt schien es ihm. Ein Bekenntnis, das er lieber unausgesprochen lassen wollte; wie verheiratet käme er sich vor.

»Ich kann Katya nicht allein wohnen lassen«, wich Grischa aus. »Nicht mit sechzehn.«

»Dann richten wir uns eine der Wohnungen im Haus her. Aus der darunter lässt sich sicher was machen.«

Grischa setzte sich auf und schabte mit dem stoppeligen Kinn über seine Schulter, wie nachdenklich oder verlegen.

»Was ist?«

»Nichts. Was soll sein?«

Thilo legte die Hand auf Grischas Schulterblatt. Kaum merklich zuckte Grischa zurück, und Thilo ließ die Hand sinken. Seine Kehle schnürte sich zu, er musste schlucken.

»Bist du nicht mehr glücklich mit mir?«

»Das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

Grischa starrte vor sich hin.

Dass er Thilo liebte, daran zweifelte er nicht. Niemand hatte je sein Herz so tief berührt, weder Frau noch Mann.

Thilo, wie er nachts in Grischas Nacken atmete, einen Arm um ihn geschlungen. Wenn Grischa ihm beim Schlafen zusah, in den ersten frühen Lichtstrahlen, bis Thilos Lider, blass schimmernd und feingeädert wie das Innere einer Muschelschale, sich hoben.

Für Grischa gab es kein größeres Glück.

Thilos Schritte, die zur Tür hereinkamen, seine Stimme in der Küche, während er mit Katya über dem Abwasch scherzte und lachte, versetzte etwas in ihm in glückselige Schwingungen, nach denen er süchtig war.

Er wollte nicht, dass das jemals endete. Und dennoch war seine alte Rastlosigkeit zurückgekehrt und nach und nach unter seine Haut gesickert.

Seit sie Katya dem Eiswasser entrissen hatten, drei Wochen war das jetzt her.

Solange sie keuchte und hustete und Wasser ausspie, hatte Grischa einfach nur gehandelt. Ihr als ihr Bruder auf Harris Geheiß hin ihre Kleider vom Leib geschält, sie in seine eigene Jacke gewickelt.

Dann erst hatte das Grauen begonnen. Als sie wie leblos in seinen Armen lag, die Haut fast durchsichtig und mit blauen Lippen, das Haar wie Seetang, eine schockgefrorene Meerjungfrau.

Blut, das in den Adern gefror. Er hatte es immer für eine Redensart gehalten, aber genau so hatte sich Katya angefühlt, während er sie im Schlitten an sich presste und Harri sie beide in einer halsbrecherischen Fahrt ins Lager kutschierte, dicht gefolgt von Ailo mit Christian.

Er hätte es Christian nie verziehen, hätte sie das nicht überlebt, und noch weniger sich selbst.

Etwas von diesem Eis in den Adern schien auch bei Grischa zurückgeblieben zu sein; seitdem konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie jung er noch war, noch nicht einmal zwanzig. Wie schnell alles vorbei sein konnte.

Letztlich vielleicht nur eine schwache Ausrede für seinen ungezügelten Trieb, beschämend genug. Für seine Gier nach absoluter und grenzenloser Freiheit.

»Denkst du an einen anderen Mann? An eine Frau?«

Thilos Stimme klang gepresst. Grischa warf ihm einen Blick zu; im fast weißen Gesicht prägten sich Thilos Wangenknochen herrisch heraus.

»Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich beides mag«, erwiderte er rau. »Das ist meine Natur, und das wusstest du auch.«

Der Gedanke, niemals mehr die weichen Rundungen einer Frau zu streicheln und sich an ihrem Schoß zu betrinken, niemals mehr einen anderen Männerkörper zu kennen als Thilos, nahm ihm die Luft zum Atmen.

»Nur zu.« Thilos scharfe Stimme in seinem Rücken. »Nimm dir, was du willst. Lass dich von mir nicht abhalten.«

Eine Herausforderung, die Grischa hinter dem Brustbein kitzelte und bis tief in sein Becken zog. Lächelnd wandte er sich um und streckte die Hand nach Thilo aus, die dieser wegschlug.

Eine Einladung zum Kampf, auf die Grischa sofort einstieg. Mit Worten und Küssen und Berührungen, lockend, verführend, zupackend, aufheizend. Thilos Widerstand und der Reiz der Eroberung ein Heilmittel gegen seine Unrast.

In dieser Nacht wollte er sich nur in einem einzigen Menschen verlieren. Nur von einem Mann wollte er sich lieben lassen, von Thilo allein.

Thilo war machtlos unter Grischas Händen, seinem Mund, der überwältigenden Kraft seines Körpers. Unentwirrbar verstrickt in seinen Gefühlen, die ihn hilflos machten und wütend und für die er sich in dem Augenblick hasste, als er Grischas Drängen nachgab.

Der einzige Halt, den er in diesem Tumult fand, war an Grischa, der keinen Zweifel daran ließ, wie viel Thilo ihm bedeutete. Mit dem, was er in sein Ohr raunte und auf seine Haut schrieb.

Erst als Grischa ihn im Schlaf an sich presste und Thilo selbst erschöpft und glücklich wegdämmerte, spürte er den Eiszapfen, den Grischa ihm in dieser Nacht ins Herz gerammt hatte.

Lächelnd schlug Katya die Augen auf. Im Zelt war es dunkel, das Feuer heruntergebrannt, durch die Öffnung oben konnte sie die Sterne sehen.

Das Eis rief nach ihr.

Hastig schob sie die Felldecken zur Seite und schlüpfte in die Stiefel, ihre Jacke, aus dem Zelt hinaus in die Winternacht.

Sie hatte sich gut erholt, von den Hirten mit kräftiger Suppe aufgepäppelt. Anfangs war Birra jeden Morgen eigens herübergerudert und hatte an der Feuerstelle einen bitter schmeckenden, stark gesüßten Kräutertee aufgebrüht, damit Katya und Christian unter den Fellen in ihrem jeweiligen Zelt noch den letzten Rest Kälte aus ihren Knochen herausschwitzten.

Gegen Grischas Willen und Harris Rat war sie hier im Lager geblieben; ihre Tage im Eis ließ sie sich von nichts und niemandem nehmen.

Der harschige Schnee knisterte und knirschte unter ihren Sohlen, als sie das dunkle und nachtstille Lager hinter sich ließ; nur einer der Hunde gab ein fragendes Fiepen von sich.

Etliche Herzschläge lang glaubte sie, sie hätte nur geträumt. Dann hob das Eis erneut zu singen an. Sehnsüchtig und klagend, unterstrichen von zögerlich knackenden Schlägen wie der erste Donner eines aufziehenden Gewitters.

Katya lief schneller.

Voroninvatnet konnte es nicht sein, von seinem Wintereis befreit, gerade erst wieder eine Kruste wie dünner Zuckerguss an seinen Rändern. Es musste der andere See sein, dessen Eis splitterte wie Glas. Obwohl näher am Lager, würde sie ihn in dieser Nacht nicht mehr erreichen, fast eine Stunde mit dem Schlitten war er entfernt.

Trotzdem wanderte Katya weiter. Bis sie ganz in dieses Lied eintauchen konnte, über die Ebene zu ihr getragen und von den Bergen verstärkt.