Mehr Hausfrauen konnten es sich leisten, ihre Näharbeiten für ein paar Mark außer Haus zu geben und sich mit dem Lohn ihres Mannes etwas Feineres anzuschaffen. Die Art der Stickerei, die Katya in Norwegen bei Silja Guðmundsdóttir gelernt hatte, nahm sich hübsch auf Wäsche für Tisch und Bett aus, was sich schnell bei Bergmanns Kundschaft herumsprach, und Katya verdiente gutes Geld damit.
Wann immer sie konnte, nahm sie den Schlüsselbund vom Haken und lief über die Brooksbrücke zum Lagerhaus an den Mühren, um nach ihrem Eis zu sehen.
Als hätten sie den Winter hierher gebracht, mitten in den Hamburger Frühling, so war es, wenn Katya das Tor hinter sich zuzog. Jedes Mal überprüfte sie, ob nach starkem Regen oder Sturm die Abflüsse nicht verstopft waren, die das Schmelzwasser in den Kanal des Binnenhafens leiteten, und ob nicht zu viel von ihrem Eis schmolz.
Fest in ihre Jacke eingewickelt und ihr Atem dampfend vor dem Gesicht, schritt Katya den meterlangen Eisberg ab, den sie aus Norwegen hierher geschleppt hatten.
Hässlich sah er aus in seinem braunfaserigen Torfkleid. Seine Schönheit war eine innere. Tausende von Blöcken klarsten Eises, die sich gegenseitig kühlten, den ganzen Frühling hindurch.
Katya war voller Stolz, dass sie ein so gutes Eis gefunden und mitgebracht hatten.
Manchmal setzte sie sich auf eine der Kisten, die noch vom Vormieter herumstanden. Die Rufe der Kahnschiffer und Hafenarbeiter, die Stimmen der Frauen aus den Fenstern, von Backsteinmauern und Holzbalken zu einem Flüstern gedämpft, genoss Katya die kühle Ruhe ihres Eises.
Als ob sie am Ufer des zugefrorenen Sees säße, so fühlte es sich dann an.
Ihres Sees.
Johann Silberberg hatte die Dokumente vom Amt in Bergen geschickt; unter gegenseitigen Nutzungsrechten mit den Leuten des Fjords war der See, mitsamt ein paar Landmil seines Ufers, auf die Namen von Katya und Grischa, Thilo und Christian eingetragen.
Doch eigentlich war es Katyas See, zumindest in ihrem Herzen.
Das dachte sie jedes Mal, wenn sie hier saß. In dieser dämmrigen Höhle inmitten des Hamburger Hafens, wo der Schatz lagerte, der sie reich machen würde.
Auch wenn Grischa im Mai mit einer Sorgenfalte auf der Stirn von seiner jüngsten Fahrt nach England zurückgekehrt war. Mit finsterem Blick brütete er vor sich hin, während er eine Wiege und eine Wickelkommode für Christians Nachwuchs zimmerte.
Nicht nur in Norwegen war es kalt gewesen. Auch England hatte einen strengen Winter erlebt, mit weißen Weihnachten wie aus dem Bilderbuch und rekordverdächtigen Minusgraden.
Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die Eishäuser der Insel im Sommer voll sein würden, auch ohne ihr norwegisches Eis.
Sie verließen sich darauf, dass ihr Eis sich durchsetzen würde, weil es das beste war, und diskutierten abends in der guten Stube der Petersens die schmissigen Werbezeilen, die Christian entwarf und die Schlagworte enthielten wie arktisch und polar, glasklar und frisch, Berge, Fjorde, Diamant und Kristall.
Flugblätter ließen sie schließlich drucken; gegen zusätzliche Visitenkarten hatte Thilo sein Veto eingelegt, sie gaben auch so schon genug Geld aus.
Nach wie vor hielten sie an ihrer Idee fest, unterstützt von Arno Petersen und Henny, der bevorstehende Familienzuwachs gutes Omen und Ansporn zugleich.
Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Sie besaßen das Eis, das sie nicht unbegrenzt lagern konnten, und hatten bereits eine Anzahlung auf die Albatros geleistet, für die letzten beiden Wochen im Juni.
Grischa hätte lieber noch gewartet, auf die Hitze des Julis, des Augusts. Aber die Albatros war für den ganzen übrigen Sommer schon ausgebucht, ein vergleichbares Schiff nicht zu bekommen.
Also gab Christian Anzeigen in verschiedenen Londoner Blättern auf, und Mitte Juni stachen sie mit ihrer kalten Fracht in See.
Gemessen am Hamburger Hafen oder sogar dem von Bergen, war der Hafen von London überwältigend. Eine Stadt für sich, gut fünfzig Meilen von der Küste ins Land hinein.
Morgen um Morgen von Werften und ihren Docks, von Lagerhäusern und Schuppen und Werkstätten dehnten sich entlang der Themse aus, selbst ein Lindwurm von Fluss. Wie ein engmaschiger Gitterzaun zogen sich die Masten und Leinen der Segler die Kais entlang, bunt beflaggt, und auch Dampfschiffe, deren Schornsteine dunklen Rauch ausspien, gab es hier mehr als in Hamburg; dazwischen fädelten sich Leichter und Lastkähne und Ruderboote ein.
Während die Hansestadt Hamburg von ihren Kaufleuten keinen Zoll erhob, um den Handel in Schwung zu halten, mussten sie hier einen gewissen Betrag entrichten, das wusste Grischa von seinen Fahrten nach England.
Er überließ es Thilo mit seinem bedächtigen Englisch, das Gespräch im Kontor des Schiffsmaklers zu führen, nachdem ein Zollinspektor einen Blick in den Laderaum geworfen hatte. In Pfund Sterling umgerechnet, kam es Grischa allerdings verdächtig günstig vor, was Thilo für die vorgelegten Frachtpapiere letztendlich bezahlte.
»Warum mussten wir nicht mehr dafür hinblättern?«, wollte Grischa wissen, als sie wieder aus dem Kontor traten.
Eines von vielen Büros hier, die sich mit einfachen Herbergen und Kneipen abwechselten. In den Schaufenstern glänzten Chronometer und Kompasse, Quadranten und Sextanten. Wie Signalfeuer leuchteten schon von Weitem rote und blaue Flanellhemden, vor den Türen stapelten sich Hängematten und Ölzeug, die Fassaden dazwischen mit Segeltuchhosen, Lotsenjacken und glänzend schwarzen Überziehern behängt.
Dockarbeiter kreuzten ihren Weg, Sackträger und ein Smutje, der sein Schiff mit einer Karre voller Metalldosen, gefüllt mit Fleisch und Zwieback, bestückte, und bei den Segelmachern roch es nach Tuch, Hanf und Teer.
»Na ja«, erwiderte Thilo schließlich gedehnt, noch in den Stapel Papiere in seiner Hand vertieft, »der Zoll berechnet sich nach dem Verkaufswert der Fracht. Und wir haben schließlich nichts als gefrorenes Wasser an Bord. Was kann das schon wert sein? Fanden sowohl Inspektor als auch Schiffsmakler.«
Ein Grinsen blitzte in Grischas Gesicht auf.
»Ich wusste nicht, dass du so gerissen sein kannst.«
Auch um Thilos Mund zuckte es, während er mit unschuldiger Miene den Blick zum Himmel hob.
»Ich schätze, man muss auch mal fünfe gerade sein lassen für den Erfolg.«
Herzhaft packte Grischa ihn am Nacken.
»Am liebsten würde ich dich an Ort und Stelle küssen. Vor allen Leuten«, raunte er ihm ins Ohr.
Ein Lächeln schien zwischen den beiden auf.
Was es an Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte, hatten sie im norwegischen Winter zurückgelassen, so hatte es zumindest den Anschein.
Thilo gab sich Mühe, Grischa nicht zu bedrängen, nichts von ihm einzufordern, und Grischa vergalt es ihm mit Leidenschaft und aller Liebe, zu der er fähig war. Dass Thilo nachts wach lag, während Grischa auf Fahrt war, kam ihm normal vor; das Schicksal desjenigen, der sein Leben mit einem Seemann teilt. Abgesehen davon war Thilo einfach glücklich, mit Grischa zusammen zu sein, als Paar, fast ein Jahr schon.
In Grischas Augen flackerte es, nur für den Bruchteil eines Moments. Am Rand seines Gesichtsfelds nahm Thilo eine junge Frau wahr, drall und mit flammend rotem Haar unter der Haube.
Thilos Züge verhärteten sich.
Es war ein schöner Morgen, sonnig und warm, nichts als ein paar Wattewölkchen am blauen Himmel; mittags würde es sicher heiß werden.
Jeder einen Stapel Flugblätter in der Hand, verteilten sich Grischa, Thilo und Christian über den Kai, an dem die Albatros mit stampfender Pumpe vor Anker lag, und priesen ihr Eis an, das sieben Pence pro Pfund kosten sollte.
Lauthals lockten ihre Rufe und bewarben die besondere Qualität des Eises, dazwischen sprachen sie jeden an, der vorbeiging, und hielten ihm einen ihrer Werbezettel hin. Den Handwerkern, die genauso vorübereilten wie Geschäftsleute, Offiziere der Navy in ihren schneidigen Uniformen und Hafenbeamte, die ihre Wichtigkeit mit glänzenden Messingknöpfen unterstrichen. Nach Pfeifenrauch roch es und nach Rum, nach frisch gegerbten Häuten und Horn, immer wieder nach Kaffee und Gewürzen.