V Diamantstaub
Voroninvatnet, 1833
Diamond dust , englisch; Diamantstaub , deutsch.
Winzige Eiskristalle, die sich unter einem absolut klaren Himmel bilden, wenn sich kalte Luft am Boden mit der wärmeren Luft darüber mischt. Im Sonnenlicht funkeln und glitzern diese umherschwebenden Kristalle wie unzählige Diamantsplitter.
33
Katya löste ihren Blick vom Kaminfeuer und ließ ihn durch die Blockhütte wandern, die im Winter vor zwei Jahren hier entstanden war.
Wände und Dielenboden und Balken rochen noch nach dem Wald an der Küste, in dem das Holz geschlagen und von Rentieren hierher gezogen worden war, während das Eis im See von Voroninvatnet sich auswuchs und verdichtete. Winzig war diese Hütte, aber sie war auch nur für die einzige Frau in der Gruppe gebaut.
Katya hätte es nichts ausgemacht, sich mit den Männern das größere Blockhaus weiter oben am See zu teilen. Trotzdem war sie glücklich, diese Hütte ihr Eigen zu nennen, ihr Geschlecht einmal kein Makel, sondern ein Privileg.
Katyas Blick streifte die simple Bettstatt und den kleinen Herd, an dem sie kochen konnte, wenn das Wetter schlecht war, und sich zwischendurch einen Kaffee machen. Rentierfelle an den Wänden und auf dem Boden milderten die Kahlheit des nackten Holzes. Selbst genähtes Bettzeug hatte sie sich aus Hamburg mitgebracht und Vorhänge mit norwegischer Stickerei. Jetzt, am Abend, waren sie zugezogen, die Fensterläden geschlossen; draußen fauchte der Wind.
Für Abende wie diesen hatte sie sich Bücher kaufen wollen, sobald sie das Geld dafür erübrigen könnte; nun würde es wohl nicht mehr dazu kommen.
Liebevoll strich Katya über den Tisch neben sich, den Grischa aus einem besonders schönen dunklen Holz für sie geschreinert hatte.
Zuhause, dachte sie.
Hinter ihrer Nasenwurzel prickelte es, und sie zwang die Tränen zurück. Sie würde noch genug Zeit haben zu weinen, wenn es erst einmal vorbei war.
»Die letzte Chance?«, ließ sich Johann Silberberg vernehmen.
Katya nickte, ohne ihn anzusehen. »Der letzte Versuch.«
Sie trank einen Schluck Kaffee und richtete den Blick wieder ins Feuer.
Sie hatten sich nicht unterkriegen lassen. Das Fiasko in London, als sie ihr Eis verschenken und über Bord werfen mussten, um mit einer Ladung Tuch wenigstens ein wenig Geld zu verdienen, hatte sie sogar enger zusammengeschweißt.
Dazugelernt hatten sie, waren klüger nach Hamburg zurückgekehrt und auch weiterhin fest entschlossen. Unermüdlich, schonungslos und manchmal hitzig hatten sie am heimischen Tisch die Fehler diskutiert, die sie vielleicht gemacht hatten, neue Möglichkeiten skizziert und wieder verworfen, eine neue Strategie entwickelt.
Für das Eis, das sie im folgenden Winter aus dem See holten, hatte Grischa von seinen Fahrten nach England Adressen mitgebracht, und im Frühjahr verschickte Christian Werbebriefe an Fischhändler und Metzger, Molkereien und Konditoreien, Clubs und Restaurants, schließlich an ein paar wohlhabende Privatmänner. Tatsächlich trafen Vorbestellungen für eine Lieferung im Sommer ein, und dieses Mal konnten sie auch vom Kai aus einige Zentner verkaufen.
Trotzdem blieb immer noch zu viel Eis übrig, als dass sich die Fahrt wirklich gelohnt hätte, genauso wie im Jahr darauf, einem Regensommer.
Das vergangene Jahr war dann ein gutes gewesen, der Sommer in England heiß und trocken; bis auf den letzten Block hatten sie ihr Eis in London an den Mann gebracht. Doch nachdem sie in den Jahren zuvor über den Winter mehr Eis geschnitten hatten, als sie später verkaufen konnten, hatten sie dieses Mal weniger davon aus Norwegen mitgebracht. Die rege Nachfrage hatte sie überrascht; fast noch einmal so viel hätten sie loswerden können.
Dass sie zum ersten Mal Gewinn gemacht hatten, wenn auch lediglich einen schmalen, tröstete nur wenig darüber hinweg, dass es so viel mehr hätte sein können.
»Die Raten für das Darlehen und die Zinsen fressen uns auf«, sagte Katya leise.
Während Arno Petersen und Christian mit Henny den Gemischtwarenladen am Laufen hielten, kümmerte sich Thilo nicht nur um dessen Bücher und die des Eishandels, sondern auch für ein paar Mark um die Bilanzen einiger Handwerker in der Nachbarschaft. Grischa heuerte an, wo immer er konnte; Erster Offizier war er jetzt, für dieses Jahr hatte er sich das Kapitänspatent zum Ziel gesetzt.
Katya nähte weiterhin für Bergmann und half im Wirtshaus an der Kibbeltwiete aus. Sie hasste die Arbeit dort, zwischen angetrunkenen Männern, denen sie stets aufs Neue zu verstehen geben musste, dass sie nur mit den Augen gucken durften, nicht mit den Fingern, wie man es bei kleinen Kindern tat. Doch sie brauchte das Geld und achtete darauf, dass entweder Grischa oder Thilo sie spätabends dort abholten, gut sichtbar auch noch für den letzten Gast, der zu tief ins Glas geschaut hatte.
Während der Handel in Hamburg aufblühte und überall neue Geschäfte und Kontore aus dem Boden schossen, hielten sie sich gerade so über Wasser.
Und die Zeit saß ihnen im Nacken.
»Im Herbst läuft die Frist für unser Darlehen ab«, fügte sie leise hinzu. »Fünftausend Mark haben wir bereits zurückgezahlt. Wenn wir die restlichen siebentausend bis dahin nicht zusammenbekommen, verlieren wir alles.«
»Das tut mir leid«, hörte sie Johann Silberberg murmeln. »Ich wünschte, ich könnte helfen. Aber an so viel Geld komme auch ich nicht heran.«
Traurig lächelnd schüttelte Katya den Kopf.
Alles, was sie hatten falsch machen können, hatten sie falsch gemacht, so schien es. Wie Kinder kamen sie sich vor, die ihr fantasievolles Spiel für die Wirklichkeit hielten und nun von den Erwachsenen die Flügel zurechtgestutzt bekamen.
Der Wind heulte kräftiger um die Blockhütte, wütend, dass dieses lächerlich kleine Häuschen ihn daran hinderte, frei über die Ebene hinwegzufegen.
Unwillkürlich zog Katya das Schultertuch enger um ihr Hemd zusammen. Hier in Norwegen trug sie immer Männersachen, die Haare zu einem langen Zopf geflochten.
Der Schneesturm hatte die Arbeit am Eis unterbrochen, kaum dass sie recht begonnen hatte. Laut Grischa würde er noch einige Tage anhalten, solange würden sie untätig herumsitzen. Sie konnten nur hoffen, dass er kein Tauwetter mitbrachte und das Eis im See schmolz.
Einmal mehr hatte sich alles gegen sie verschworen.
»Ich habe Thilo und Christian noch gar nicht gesehen«, sagte Johann Silberberg zwischen zwei Schlucken seines Kaffees.
Katya schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht mitgekommen.«
Nach jener ersten Londonfahrt, die so niederschmetternd endete, im August, hatte Henny ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Die kleine Jette, von Anfang an Arno Petersens Augenstern. Einen versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht, brachte er Stunden damit zu, seine Enkelin in der Wiege zu schaukeln, damit Henny ein wenig kostbaren Schlaf nachholen konnte.
Eines dieser Babys, die Erwachsene auf den ersten Blick in Verzückung versetzten, weil sie so niedlich und herrlich speckfaltig waren und alle anstrahlten; jetzt, mit dreieinhalb Jahren, war Jette, blond gelockt und wonnig, ganz Hennys Ebenbild.
Seitdem wollte kein Kind mehr kommen. Jedes, das in Henny Wurzeln schlug, verlor sie wieder, noch ehe sich ihr Bauch unter den Röcken wölbte. Sie konnten nur vermuten, dass es etwas mit Jettes Geburt zu tun hatte, die schwer gewesen war.
Henny ließ es sich nicht anmerken, aber Katya sah die Traurigkeit, die sich hin und wieder in ihre Augen schlich, sie dumpf und fahl machte. Wie Hennys Blick manchmal umherschweifte, als suchte sie die geisterhaften Schemen ihrer Kinder, die sich nie ganz ausgeformt, nie das Licht der Welt erblickt hatten.
Als ob Hennys Schoß sauer geworden wäre mit dem ersten Kind; eine Säuerlichkeit, die sich in ihren Mundwinkeln festsetzte, in ihre Worte einzog.