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Fäden hatten sich gelöst zwischen Christian und Henny, das war spürbar. Wie bei einem Bettlaken, das zu oft ausgekocht und durch die Mangel gedreht worden war. Mit jedem Kind, das nur eine Ahnung blieb, ein wenig mehr.

Diesen Herbst dann war das Licht in Hennys Augen zurückgekehrt, das Lachen auf ihr Gesicht, als sich ihr Bauch zu runden begann. Doch auch diese Hoffnung wurde ihr genommen, kurz vor Weihnachten, und Christian hatte entschieden, dass Henny ihn jetzt mehr brauchte als das Eis, mit ihrer aller Segen.

Thilo war ebenfalls in Hamburg geblieben. Die Jahresabschlüsse, hatte er gemurmelt. Katya glaubte, dass es vielmehr an Grischa lag. Obwohl beide ihre Stimmen dämpften, wenn sie Katya in der Wohnung wussten, konnte sie sie oft streiten hören. Sie spürte die Anspannung zwischen den beiden, wenn sie alle zusammen beim Essen saßen. Ein verbissenes Tauziehen, in dem keiner von beiden nachzugeben oder gar loszulassen bereit schien.

Sogar Katya und Grischa waren in letzter Zeit häufiger aneinandergeraten, über Nichtigkeiten wie die Größe der Eisblöcke, die sie aus dem See schnitten, und Katyas Arbeit im Wirtshaus.

Auch das Gewebe zwischen ihnen vieren begann an den Säumen zu ächzen, die ersten losen Fäden aufzuweisen.

Ihrer aller Nerven lagen blank. Zermürbt waren sie, nach mehr als vier Jahren harter Arbeit, vom Warten und Planen und Bangen und Hoffen. Von der Enttäuschung, die am Ende als Einziges übrig blieb, und der erdrückenden Last ihrer Schulden.

Vielleicht waren Christian und Thilo auch deshalb zu Hause geblieben, weil sie realistischer waren und einzusehen begannen, dass das Geschäft mit dem Eis sinnlos war. Im Gegensatz zu Katya und Grischa, die weiter an ihrem Traum festhielten.

Wenigstens dieses eine Jahr noch.

»Wie würde es danach für dich weitergehen?«, fragte Johann Silberberg behutsam.

Katya zuckte mit den Schultern.

»Ich habe meine Arbeit als Näherin. Zusammen mit Grischas Heuer können wir uns bestimmt irgendwo in der Stadt eine kleine Wohnung leisten. Oder ich gehe nach Tromsø zurück, zu Fru Guðmundsdóttir.«

Mehr als nur ein dünner Strohhalm, der ihr immer bleiben würde.

»Aber das ist nicht das, was du willst.«

Katya schüttelte langsam den Kopf.

»Obwohl ich mir immer sage«, fuhr sie nach einer Weile fort, »dass all das so viel besser ist als das, was mich als Bauernmädchen in Russland erwartet hätte.«

Es war die Wahrheit, und trotzdem hörte sie selbst, wie dünn und aufgeschürft ihre Stimme klang.

Wie Hennys Wunsch nach einem weiteren Kind ein ums andere Mal in einer blutigen Pfütze endete, rann Katya der Traum von einem Handel mit Eis durch die Finger.

Jeder Fehler, aus dem sie lernten, es beim nächsten Mal besser zu machen, jeder neue Einfall erwies sich als genauso nutzlos wie die Kräuter und Pülverchen, zu denen Henny griff, die Leibesübungen oder Bettruhe.

Kühn geträumt hatte sie, Katya. Großes hatte sie erreichen wollen und war gescheitert. Ein elendes Gefühl, mit gerade einmal zwanzig Jahren.

Etwas davon musste auch Johann herausgehört haben.

»Aber?«

»Dieses Land. Voroninvatnet. Beides wird immer da sein, das weiß ich.«

In diesem Winter, der vielleicht ihr letzter hier war, spürte sie besonders deutlich, wie sehr sie hier Wurzeln geschlagen hatte. In dieser weiten weißen Leere, in der Klarheit und Ruhe zu Hause waren. Wo Polarfüchse umherstreiften und die Schneeeulen balzten; Geschöpfe, selbst wie aus Eis und Schnee geschaffen.

Katya blickte sich in der Hütte um.

»Ich weiß nur nicht, wie ich es aushalten soll, dass ich womöglich nie wieder hierherkommen kann, weil ich nicht mehr die Mittel dazu habe.«

»Ich bin sicher, auch dafür wird sich ein Weg finden.«

Johanns Hand legte sich auf ihre.

Zwei Jahre hatten sie einander nicht gesehen, den vergangenen Winter hatte er in Alaska verbracht. Sie freute sich, dass er in diesem Jahr hier war; sofern es ihn nicht irgendwann nach Hamburg verschlug, würde sie auch ihn nicht so bald wiedersehen.

Sechsundvierzig Jahre alt war er jetzt, mit ein paar Linien mehr in seinem wettergegerbten Gesicht, etwas grauer an den Schläfen. Abgesehen von ihrem Bruder, kannte sie keinen Mann so lange wie Johann Silberberg, so gut.

Mit einem Räuspern zog er seine Hand zurück.

»Dann werde ich mich mal durch den Sturm zu meinem Nachtlager kämpfen.«

Katya hatte oft an ihn gedacht. An seine Freundlichkeit und Güte und wie sein Verstand ihr eine neue Sicht auf das Eis eröffnet hatte. Wie wohl sie sich in seiner Nähe fühlte, aufgehoben und geschätzt.

»Du kannst auch bleiben.«

Sie hatte viel darüber nachgedacht, den Sommer über, und ihre Worte sorgfältig gewählt.

Dennoch wurden ihre Wangen heiß, als seine Augen über ihr Gesicht wanderten.

Mehr als die Hälfte ihres Lebens war sie jetzt schon aus Russland fort. Seitdem schien sie ständig gewartet zu haben. Darauf, dass Grischa nach Hause kam oder es Winter wurde. Genug Geld gespart zu haben und den Handel anzugehen. Nach Norwegen zu fahren, ins Eis, und darauf, es im Sommer zu verkaufen.

Immer hatte sie darauf gewartet, dass endlich etwas geschah.

Jetzt, mit zwanzig Jahren, war sie des Wartens müde. Auf etwas, das womöglich niemals kam.

Leben, das war doch jetzt.

»Du hast mir etwas versprochen«, fügte sie hinzu. »Vor vier Jahren. Als der See sang.«

Er schmunzelte. »Wie könnte ich das vergessen haben.«

»Ich bin jetzt erwachsen, Johann. Ich bin eine Frau.«

Seine braunen Augen glänzten verschmitzt.

»Das ist mir nicht verborgen geblieben. Und wie ich es geahnt hatte, eine gefährliche noch dazu.«

Katya beugte sich vor. Als er ihr nicht auswich, sie nicht abwehrte, legte sie die Lippen auf seinen Mund; dann erst durchzuckte sie der Gedanke, dass sie nichts über das Küssen wusste.

Johann wusste davon umso mehr. Vorsichtig war sein Kuss, sanft und warm; nach Kaffee schmeckte er und wie Pfeffer und Salz.

Katya mochte es gern, wie er sie küsste; sie legte die Arme um seinen Nacken, um sich mehr davon zu holen.

»Bist du sicher, dass du das willst?«, murmelte er gegen ihre Haut. »Mit mir? Nicht mit einem jüngeren Mann, der noch in Form ist?«

»Mit dir«, flüsterte Katya an seiner Wange. »Weil du ein guter Mann bist. Weil ich dich kenne und dir vertraue.«

Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung und sah sie ernst an.

»Du könntest ein Kind bekommen.«

Katya hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

Ein Kind war die kleinste ihrer Sorgen, womöglich wäre es sogar etwas Gutes. Das dachte sie manchmal, wenn sie Henny zusah, wie sie Jette mit Apfelschnitzen fütterte. Wenn Christian bei Tisch seine kleine Tochter auf den Knien hielt wie ein rohes Ei oder wenn sie selbst, Thilo und Grischa mit dem kleinen Mädchen spielten.

Katya stand auf und nahm Johann bei der Hand.

Sie ließen sich Zeit, auf der kleinen Bettstatt, mit langen Küssen, und Katya griff nur ein, als Johanns verstümmelte Finger sich zu sehr mit den Knöpfen ihrer beider Hemden abmühten.

Unter seinen Kleidern war alles an ihm kernig und stramm, mit seinem vorstehenden Bauch von einer Gemütlichkeit, die Katya anziehend fand. Auf diese Weise hatte sie noch nie einen Männerkörper betrachtet, nie berührt, Forscherdrang und Begehren eins. Seine Haut war wie weiches Leder, vernarbt von Eis und Fels, mit einem Dickicht dunklen Haares; wie gewässertes Holz und frisch gebackenes Brot roch er.

Irgendwann nahm er atemlos ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr fest in die Augen.

»Denk nicht, dass du immer nur von mir gelernt hast, Katya. Ich habe genauso viel von dir gelernt und tue es noch.«

Katya nickte, das empfand sie auch so, darin waren sie einander ebenbürtig.

Ein paarmal zuckte sie vor ihm zurück. Gestreift von der Erinnerung an Igor, der ihr schmerzhaft die Arme verdrehte, weil Jakov und Boris mit brutaler Neugierde hatten wissen wollen, was für ein Ding sich unter den Röcken ihrer kleinen Schwester verbarg und was ihre groben Burschenhände damit anstellen konnten. An Antons schwitzige Finger, in der Kombüse auf dem Nordmeer, und wie er sich an ihrem Rücken rieb.