Выбрать главу

Thilo reagierte als Erster, polternd und fast drohend.

»Und dann auch wieder dreieinhalb Monate für den Weg nach Hause? Grischa, du spinnst. Wir können hier nicht alles für mehr als ein halbes Jahr stehen- und liegenlassen. Schon gar nicht den Laden.«

»Ich bin doch auch noch da«, wandte Henny mit vollem Mund ein, fast gekränkt.

Thilo war noch nicht fertig.

»Und was ist mit den Bestellungen aus London? Willst du die stornieren? Wenn wir das jetzt machen und mit unserem Eis in Indien Schiffbruch erleiden, kriegen wir nie wieder einen Fuß auf den Boden. Dann sind wir ein für alle Mal erledigt.«

Darüber hatte sich auch Grischa bereits Gedanken gemacht.

»Wir fahren dieses Jahr mit zwei Schiffen. Auf zwei verschiedenen Routen. Entweder teilen wir uns auf …«

Die enttäuschten bis empörten Blicke der anderen unterbrachen ihn, und einer seiner Mundwinkel zuckte.

»Umso besser. Die Albatros segelt wie geplant im Juli nach London. Albers hat uns bis jetzt jedes Jahr begleitet, der kann die Fracht auch ein Mal ohne uns ausliefern und uns den Erlös zurückbringen. Und wir stechen alle noch vor dem Sommer zusammen in Richtung Kalkutta in See.«

»Wo nimmst du ein zweites Schiff her?«, fragte Thilo beharrlich.

»Ich spreche gern noch mal mit meinem Vater«, schlug Henny vor.

Jettes Geburt hatte endgültig Frieden zwischen den Pohls und den Petersens gebracht; Christian und Henny waren regelmäßig mit ihrer Tochter sonntags am Brook zum Mittagessen mit anschließendem Spaziergang und Kaffee.

Thilo schüttelte den Kopf. »Wir haben kein Geld für ein zweites Schiff.«

Grischa beugte sich vor, die Brauen zusammengezogen und die Augen von dunklem Ernst.

»Dann beschaff uns welches.«

»Und woher bitte?«, erwiderte Thilo mit höflicher Härte. »Wir können im Herbst nicht einmal unser Darlehen zurückzahlen.«

In diesem Wortwechsel zwischen Thilo und Grischa, der etwas Erbittertes hatte, ging es um mehr als um die Kosten eines zweiten Schiffs, das war für alle spürbar.

Christian sah zu Katya.

»Haben wir denn genug Eis für zwei Fahrten im selben Jahr?«

Katya dachte an den aus Blöcken aufgeschichteten Eisberg, der das Lagerhaus auf frostige Temperaturen herunterkühlte und dabei wegen seiner schieren Masse selbst erfreulich wenig Wasser ausschwitzte.

Im Kopf überschlug sie die bisher eingegangenen Bestellungen.

»Wenn wir uns darauf beschränken, in England nur das Eis auszuliefern, was dort geordert wurde, ja.«

Christian klopfte mit dem Ende des Bleistifts auf das Papier vor sich.

»Und wie viel Eis werden wir unterwegs verlieren? In dreieinhalb Monaten auf See, unter der Sonne?«

Katya dachte an das Eis, das in diesem Jahr so dicht und klar und schwer war wie dickstes Glas. Ein geduldiges Eis, in dem alle Zeit der Welt eingefroren schien.

»Vielleicht die Hälfte, vielleicht weniger.«

Sein Blick auf sie schärfte sich. »Glaubst du oder weißt du?«

Auch Katyas Augen kühlten ab. »Schätze ich.«

Christian deutete ein Nicken an; die Art, wie er dabei die Luft einsog, verriet, dass ihn diese Antwort ganz und gar nicht zufriedenstellte, und Katya funkelte ihn angriffslustig an.

»Also sind wir uns einig, mit London und Kalkutta?«, fragte Grischa in den Raum.

Katya und Christian nickten, dann blickten alle zu Thilo.

Den Kopf gesenkt, brütete er schweigend vor sich hin, bevor er schließlich die Schultern zuckte.

»Was soll’s? Wir sind ohnehin dabei, alles zu verlieren. Dann können wir auch alles riskieren.«

Henny sprang auf, um den Schnaps zu holen, mit dem sie auf diese Entscheidung anstießen. Vielleicht tranken sie sich auch schlicht Mut an; in jedem Fall blieb keine Atempause mehr für die Neuigkeit, die Katya und Thilo zu verkünden gehabt hätten.

Noch in derselben Woche wurden Thilo und Christian bei der Bank vorstellig, um einen Zahlungsaufschub zu erwirken. Thilos Zahlenspielereien, Christians begeisterte Schilderungen von Tonnen von Eis unter indischer Sonnenglut wogen allerdings nicht halb so viel wie die zähe Hartnäckigkeit, mit der sie um ein paar Monate mehr Zeit rangen.

Schließlich gaben die Herren auf der Bank nach; das Haus am Kehrwieder mit den Wohnungen und dem gut eingeführten Laden gehörte ihnen schon so gut wie sicher, da konnten sie auch noch bis zum Beginn des kommenden Jahres warten.

Henny tat das, was jede gute Ehefrau an ihrer Stelle getan hätte. Sie steckte Jette in ihr schönstes Kleidchen, band ihr große Schleifen in die Locken und stattete Heinrich Pohl in seinem Kontor einen überraschenden Besuch ab.

Und nachdem Heinrich Pohl allen Kapitänen und Händlern, die nach und nach eintraten, um ihre Papiere abgefertigt zu bekommen, mit großväterlichem Stolz seine niedliche Enkeltochter gezeigt hatte, erwischte Henny einen günstigen Moment, in dem sie ihren Vater um zweitausend Mark und ein Schiff für die Fahrt nach Indien bat.

36

Reisefieber kribbelte in Katyas Bauch und prickelte bis in ihre Fingerspitzen, als sie ihre Hemden und Herrenhosen in der Reisetasche verstaute, Unterzeug und ihre notwendigsten Toilettenartikel.

Übermorgen würden sie in See stechen.

Schließlich packte sie ihre norwegische Alltagstracht dazu, vielleicht würde sie in Indien Gelegenheit haben, sie zu tragen; schön genug, um sich damit sehen zu lassen, war sie allemal.

Indien, wiederholte sie immer wieder ungläubig. Ich werde nach Indien reisen.

Die vergangenen Nächte waren kurz gewesen. Bis spät hatte sie im Lampenlicht noch genäht und gestickt, heute Morgen das letzte Paket mit den stramm gestärkten Tisch- und Betttüchern zu Fritz Bergmann gebracht.

Dieser war alles andere als begeistert, mehr als ein halbes Jahr auf ihre Arbeit verzichten zu müssen, was Katya gleichmütig hinnahm. Wenn alles gut ging, würde sie auf diese Arbeit nicht mehr angewiesen sein; ging es schief, würde sie auch woanders solche Aufträge bekommen, so selbstbewusst war sie inzwischen.

Es klopfte an der Wohnungstür, und Katya sah überrascht Christian an. In einem der leichten braunen Anzüge, die er seit einiger Zeit im Laden trug und die seine Haare blonder wirken ließen, seine Augen noch blauer; in diesem April hatte er seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Wie sie zueinander standen, fand Katya selbst schwierig zu umreißen. Nicht Freund, aber auch kein Feind, sondern etwas dazwischen. Als Thilos Bruder ein Teil der Familie, zu der die Petersens und Voronins zusammengewachsen waren; vielleicht wie ein entfernter Vetter, mit dem man mehr schlecht als recht auskam, aber mit dem man sich zu arrangieren gelernt hatte.

Katya konnte nur raten, ob er sie auf eine ähnliche Weise betrachtete.

»Thilo und Grischa sind nicht da«, wehrte sie gleich statt einer Begrüßung ab.

Beide hatten im Hafen mit der Maiden of the Seas alle Hände voll zu tun. Eine Walküre von Schiff, die ihnen Heinrich Pohl aus dem englischen Hull vermittelt hatte.

Morgen würde Katya das Verladen des Eises für Kalkutta mit überwachen und dann die Schlüssel zum Lagerhaus bei Heinrich Pohl deponieren. Zusammen mit den Lieferscheinen und Rechnungen für Kapitän Albers’ Fahrt auf der Albatros im Juli, der als ihr Agent den Verkauf in London abwickelte.

»Ich weiß«, erwiderte Christian, »ich wollte auch zu dir.«

Christian hatte sich verändert in den knapp fünf Jahren seit seiner Hochzeit, das dachte Katya nicht zum ersten Mal. Das mal hoch auflodernde, dann wieder unsicher flackernde Feuer in ihm war erloschen, nach und nach, mit jedem Jahr in dieser Ehe.

Dennoch ähnelte er jetzt wieder verblüffend dem jungen Mann, der damals, in ihrer allerersten Zeit in Hamburg, fast jeden Tag vor dieser Tür gestanden hatte. Mit einer Speckseite, einem Kopf Salat oder süßem Gebäck. Mit leuchtenden Augen und einem Lächeln, das Katya an jedem einzelnen dieser Tage von Neuem betört hatte.

Eine Erinnerung, die ihr mehr als unwillkommen war.