Verzweifelt sah sich Grischa nach einem Baum um, unter dem er mit Katya eine Weile rasten könnte, oder nach einer verfallenen Scheune. Und obwohl sie Ansiedlungen immer gemieden hatten, um neugierigen Fragen zu entgehen, hätte er jetzt sogar an die Tür eines Bauernhauses geklopft. Alles wäre ihm recht gewesen, um Katya eine Pause im Trockenen zu verschaffen.
Doch da war nichts. Nichts als überschwemmtes Grasland und die ausgedehnten Wasser der Newa.
Grischa zerrte Katya durch den Schlamm vorwärts, versuchte sogar, sie ein Stück weit zu tragen. Bis er einsehen musste, dass es sinnlos war.
Während der Regen unaufhörlich auf sie herabströmte und die Linie zwischen Himmel und Erde verschmierte, waren sie im Nirgendwo gestrandet.
Einmal mehr blickte Grischa sich hilfesuchend um, so sinnlos es ihm auch schien. Mehr konnte er nicht tun, als tropfnass hier zu stehen und auf eine Eingebung zu hoffen. Auf irgendetwas, das ihnen hier heraushalf.
Er stutzte und wischte sich das Wasser aus den Augen. Am Horizont schälte sich ein Umriss aus dem Regen und formte sich zu einem Pferd, das einen Karren zog.
Grischa warf Bündel und Stock von sich.
»Warte hier!«
Querfeldein rannte er los, durch den hoch aufspritzenden Matsch. Auf das Fuhrwerk zu, das über einen schlammigen Pfad schlingerte. Unter lauten Rufen schwenkte Grischa beide Arme über dem Kopf und sprang schließlich breitbeinig vor den Wagen.
Sichtbar widerwillig zügelte der Kutscher den müden Gaul und lugte argwöhnisch unter der Kapuze seines Umhangs hervor, von dem der Regen troff, eine Hand schon am Griff der Peitsche.
»Verzeiht, dass ich Euch aufhalte, Väterchen«, rief Grischa ihm atemlos entgegen. »Aber würdet Ihr uns ein Stück mitnehmen? Um meiner kleinen Schwester willen?«
Noch immer misstrauisch, wanderte der Blick des Mannes zu Katya, die in der Ferne wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauerte. Er murrte etwas in sich hinein, wickelte dann jedoch die Zügel fest um die Rückenlehne und schickte sich mit einem Seufzen an abzusteigen.
»Du musst sie aber schon herbringen. Wenn ich in diesen Modder da reinfahre, komme ich so schnell nicht wieder heraus.«
Grischa rannte zu Katya zurück. Den Stock ließ er liegen, drückte ihr das Bündel in die Hände und schleppte seine kleine Schwester zum Fuhrwerk, einen taumelnden und mühevollen Schritt nach dem anderen. Mit Hilfe des Kutschers bettete er sie auf die Ladefläche und breitete eine Filzdecke über sie, bevor er neben dem Mann aufstieg und der Karren ruckelnd wieder anfuhr.
Auf dem schaukelnden Kutschbock zog Grischa sich die zweite Decke tiefer über den Kopf, die ihm ihr barmherziger Samariter angeboten hatte. Immer wieder warf er einen Blick hinter sich, wo Katya zusammengerollt lag. Zwischen Käfigen, in denen Hühner ihr Gefieder aufplusterten und Gänse sich unter Protestgeschnatter aneinanderdrängten.
Der Grund, weshalb Pjotr Iwanowitsch aus seinem Gasthaus in der Stadt aufs Land hinausgefahren war.
»Wenn das Federvieh nicht von selbst dem Koch entgegenflattert, muss der Koch es eben holen«, knurrte er übellaunig unter seinem Umhang hervor. »Rentiert sich dennoch, dafür rauszufahren, Wetter hin oder her.«
Er streifte Grischa mit einem Seitenblick.
»Was habt ihr zwei denn hier draußen zu suchen, an so einem Tag?«
Grischa zögerte. Gerade so lange, wie es ihm für die Geschichte angemessen schien, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Unsere Eltern sind gestorben«, begann er, betont langsam und angestrengt. »Ist noch nicht lang her. Erst unsere Mutter, dann auch der Vater. Wir sollen jetzt zu Verwandten in die Stadt.«
Pjotr Iwanowitsch brummte einige Worte des Beileids und so etwas wie einen Segen für die Verstorbenen, bevor er den Kopf darüber schüttelte, dass jemand zwei Waisenkinder allein durch die Gegend wandern ließ, anstatt sie abzuholen.
»Nichts für ungut«, fügte Pjotr Iwanowitsch mit einem Aufschnaufen hinzu. »Eure Leute werden schon ihre Gründe gehabt haben. Zum Glück seid ihr mir über den Weg gelaufen, und jetzt habt ihr es ja auch fast geschafft. Auf die Stadt könnt ihr euch freuen, euch werden die Augen übergehen! Kenne ich noch von mir, ich bin auch vom Land, von weiter im Süden. Ich sag’s dir, Junge, eine Stadt wie Petersburg gibt es kein zweites Mal auf der ganzen weiten Welt …«
Während Pjotr Iwanowitsch ihn mit schwärmerischen Schilderungen der Stadt überschüttete, musste Grischa eingenickt sein; ein hartes Rucken des Fuhrwerks schreckte ihn auf.
Unter dem Regen sammelte sich zähe Dunkelheit. Es war schon fast Abend, am Horizont konnte Grischa die ersten Lichter ausmachen. In ein paar Stunden würde der Regen nachlassen, spätestens gegen Morgen.
»Wo müsst ihr denn hin in der Stadt?«, fragte Pjotr Iwanowitsch, als sie über eine schmale Brücke rumpelten. »Dann setze ich euch da ab.«
Verschwindend klein wirkte das Fuhrwerk zwischen den klotzigen Hausmauern, die sich in der Dämmerung zu beiden Seiten auftürmten, verheißungsvoll und abweisend zugleich.
Grischa warf einen Blick über die Schulter zu Katya, die sich die Fahrt über nicht gerührt zu haben schien. Auf sich allein gestellt hätte er es darauf ankommen lassen, wie er die Nacht überstand.
»Ich habe nicht die ganze Wahrheit gesagt, Pjotr Iwanowitsch.«
Es war demütigend, die Fallstricke der eigenen Lüge zu entwirren. Sein Wohlergehen und das Katyas in die Hände eines Fremden zu legen.
»Unsere Mutter ist tatsächlich tot, aber wir sind nicht zu Verwandten unterwegs. Wir sind ausgerissen, um irgendwo ein besseres Leben zu finden. Entlaufene Leibeigene, das sind wir.«
Unter zusammengekniffenen Brauen starrte Pjotr Iwanowitsch ihn an und brachte mit stramm gezogenen Zügeln das Pferd zum Stehen. Grischa wich diesem bohrenden Blick aus, das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Augenblicke der Beklommenheit, die nur zäh verstrichen.
»Dann sag das mal besser nicht zu laut«, ließ sich Pjotr Iwanowitsch schließlich nach einem tiefen Atemzug vernehmen. »Du weißt, das Gesetz schnappt sich immer die Fliegen und lässt die Hornissen davonkommen.«
Entschieden schnalzte er mit den Zügeln.
5
In dem Verschlag neben der Küche betrachtete Grischa seine schlafende Schwester. Behutsam legte er die Hand auf ihre rosige Wange, die warm war, aber nicht heiß; gleichmäßig strömte der Atem aus ihrem geöffneten Mund.
Sie hatten unwahrscheinliches Glück gehabt mit Pjotr Iwanowitsch und seiner Frau Olga, die ihnen etwas zu essen und trockene Kleider und einen Platz zum Schlafen gegeben hatten, zwischen Fässern, Kisten und Säcken, aus denen es gut roch.
Beruhigt war Grischa dennoch nicht. Er neigte den Kopf und presste das Ohr an die Tür zur Küche.
Zwischen Topfgeklapper schälten sich Gesprächsfetzen heraus.
»Ich weiß nicht recht«, wandte die Frau zögerlich ein.
Grischa sah Olga Arkadjewna vor sich, drall in ihrem blauen Kleid mit der umgebundenen Schürze, das nicht mehr junge Gesicht unter dem Kopftuch besorgt in Falten gelegt. Wie gestern, als ihr Mann am späten Abend mit Grischa zur Tür hereingetreten war, eine leblose Katya in seinen Armen.
»Das Mädchen kommt mir noch sehr klein vor. Wie ein Vögelchen, nur Haut und Knochen. Ich bin ganz erschrocken, als ich sie gestern in den Zuber mit heißem Wasser gesteckt habe.«
»Die haben beide auch einiges hinter sich. Aber der Junge hat erzählt, das Mädchen hat bei ihnen zu Hause alles allein gemacht«, erklärte Pjotr Iwanowitsch. »Kochen und Waschen und Nähen und Kleinvieh. Und wie tüchtig der Junge anpacken kann, hast du heute früh ja gesehen. Ich bin schon lange nicht mehr so flink mit dem Feuerholz.«
Olga Arkadjewna schwieg, während sie etwas mit dem Messer gründlich klein häckselte.