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»Rette das Schiff«, gab er die Worte wieder, die er einmal von Kapitän Halvorson gehört hatte. »Rette immer das Schiff. Das hält dich und deine Männer am Leben. Opfere nie etwas anderes als deine Fracht.«

Thilo legte Grischa die Hand auf die Schulter.

»Du wirst uns schon heil durch den Sturm bringen. Das weiß ich.«

Grischa legte seine Hand auf die Thilos.

Einige Herzschläge lang hielten sich auch ihre Blicke fest.

Thilos Augen hellten sich auf wie damals, bevor sie einander das erste Mal geküsst hatten. Ein Hoffnungsschimmer, für sie beide. Inmitten einer Sturmfront, die sie immer wieder auseinandertrieb, ohne dass sie einander je aus dem Sichtfeld verloren.

In diesem Moment fragte sich Grischa, ob alle Männer, alle Frauen dieser Welt es wirklich wert sein konnten, einen Menschen wie Thilo gehen zu lassen.

Rette das Schiff.

Worte formten sich auf seiner Zunge, zu ungewohnt, zu gewichtig, als das sie ihm leicht über die Lippen kamen, und er verschluckte sich daran.

Thilos Augen verdunkelten sich wieder. Er löste sich von Grischa, stand auf und nahm diesen kostbaren Moment mit sich.

Schweigend hörten Katya, Thilo und Christian zu, während Grischa ihnen in der engen Kajüte die Lage erläuterte. Laut und überdeutlich sprach er; das Heulen des Windes und das Donnern des Meeres übertönten sogar noch das Stampfen der Pumpen, die alle Mühe hatten, das Meerwasser aus dem Bauch zu schaffen, bevor sein Salz ihr Eis antaute.

Über ihren Köpfen schwang die Laterne im Rhythmus der Wellen hin und her, die die Maiden of the Seas von einer Seite zur anderen warfen, sogar im Schutz der Bucht.

Dabei hatte der Sturm merklich nachgelassen, jetzt, am fünften Tag. Eine reine Rechengröße, vorgegeben vom Chronometer hier in der Kajüte. Zusammengesetzt aus finsteren Nächten und lichtloser Dämmerung, in der Regenfluten alles an Farbe auswuschen, der brüllende Wind die Palmen der Küste schüttelte und das eisengraue Meer aufpeitschte.

Bis sie wieder auf die offene See hinaussegeln und Kurs auf Indien nehmen konnten, würden sie mehr als eine Woche verloren haben.

Während sie notfalls auch etwas von ihrer kostbaren Fracht schmelzen könnten, um genug Trinkwasser an Bord zu haben, ließ Grischa die Essensrationen kürzen. Es sprach für seine Fähigkeiten als Kapitän, dass keiner der Männer darüber murrte; in tapferer Einsicht genickt hatten sie.

Und es sprach auch für ihn, dass er sie hier alle zusammengerufen hatte, um gemeinsam zu besprechen, wie es jetzt weitergehen solle.

»Können wir es denn noch rechtzeitig schaffen?«, wollte Thilo wissen.

Grischa zuckte die Schultern.

»Mit genug Glück kann man alles schaffen. Es stellt sich nur die Frage, ob wir es darauf ankommen lassen und dann weitersehen wollen oder schon früher eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen.«

In der Wucht eines Tropensturms tagelang unter Deck eingeschlossen zu sein hatte diesem Wettrennen den Zauber genommen. Zwischen Bangen und Hoffen, diese nasse Hölle heil zu überstehen, war es ihnen allen zunehmend sinnlos erschienen, mit Frederic Tudor in Wettstreit zu treten.

Der vermutlich nicht einmal wusste, dass sich vier junge Leute aus Hamburg vorgenommen hatten, ihn von seinem Thron als Eiskönig zu stoßen, und der sich wohl auch nicht darum scherte.

Vermessen und eitel war ihr Plan gewesen, das sahen sie jetzt alle ein. Der unbedingte Wille jedoch blieb, das Eis, in das sie so viel investiert hatten, in den Tropen gewinnbringend zu verkaufen.

»Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«, hakte Thilo nach.

Katya beugte sich vor und ließ ihren Finger über die Küstenlinie Indiens wandern.

»Können wir nicht einen anderen Hafen anlaufen und dort unser Eis verkaufen?«

»Wir haben unsere Lieferung für Kalkutta angekündigt«, wandte Thilo nachsichtig ein.

»Schon«, überlegte Katya halblaut, während sie weiter eingehend die Karte studierte. »Aber nützt uns das im Zweifel noch etwas, wenn alle, die dort Eis haben wollen, ihres bereits bei Tudor gekauft haben? Bekommen wir unseres dann überhaupt noch los?«

Fragend sah sie zu ihrem Bruder hinüber.

»Was ist mit Madras? Das ist deutlich weiter im Süden, wir wären also auch schneller dort.«

»Nur wartet dort keiner auf unser Eis«, gab Grischa zur Antwort.

»Wir wissen allerdings auch nicht, ob in Kalkutta wirklich jemand darauf wartet«, beharrte Katya. »Aber heiß ist es sicher auch in Madras. Und damit hätten wir auf jeden Fall eine Chance, das Eis zu verkaufen.«

»Katya hat recht.«

Überrascht richteten sich alle Augen auf Christian, der sich bislang schweigend in eine dunkle Ecke gedrückt hatte und sich nun vorbeugte, ins Licht der schaukelnden Laterne.

»Wir pfeifen auf unsere Ankündigung. Auf dieses gottverdammte Wettrennen. Lieber setze ich alles auf eine Karte, als dass ich mich mit den Brotkrumen zufriedengebe, die Tudor uns vielleicht übrig lässt.«

Ernst war Christian, seine Stimme fest, beinahe hart, während es in seinen Augen blitzte. Es verwirrte Katya, dass er ihr zum allerersten Mal bei etwas beistand, das sie für richtig hielt. Als sich sein Blick mit ihrem traf, schlug sie die Augen nieder, eine plötzliche Hitze auf den Wangen.

Grischa wandte sich an Thilo. »Was meinst du?«

Thilo dachte darüber nach und rieb sich das Kinn.

»Ich bin kein Freund von großen Wagnissen«, sagte er schließlich. »Aber je länger ich mir das durch den Kopf gehen lassen, umso eher glaube ich auch, dass unsere Chancen in Madras besser stehen.«

Mit einem tiefen Aufatmen lehnte Grischa sich zurück.

»Dann auf nach Madras.«

38

Der Hafen von Madras war noch nicht einmal ein richtiger Hafen.

Nur ein endloser Sandstrand vor den entfernten Lichtern der Stadt. Das hatten sie schon gesehen, als sie am Abend den Anker auswarfen, eine gute Meile vor der Küste. Was an Säcken und Kisten und Fässern mit einem Schiff gebracht wurde oder an Bord musste, wurde mit Booten durch das flache, aber unruhige Wasser gerudert, wie sie beobachten konnten.

Es war noch früh am Tag, als sie die Beiboote der Maiden of the Seas abfierten, und trotzdem brannte die Sonne schon gnadenlos vom Himmel. Salzig schmeckender Dunst legte sich klebrig auf die Haut, und der warme Wind, der vom Meer her blies, ließ mehr Schweiß ausbrechen, als er trocknete.

Das Hemd und die aufgekrempelte Hose hafteten feucht an Katya, während sie in einem der Boote auf Madras zuschaukelte. Elegante Bauten mit Säulen und Rundbögen, die grell das Licht zurückwarfen, und unzählige würfelförmige Häuschen in Pastelltönen, Kuppeln und schlanke Türme unter himmelhohen Palmen.

Der Strand wimmelte bereits von Händlern, die ihre Fracht entgegennahmen, bevor die Lastenträger, magere braune Männer, lose Gewänder übergeworfen oder nur mit einem Lendentuch bekleidet, sie schulterten und durch den Sand zur Stadt schleppten.

Katyas Herz schlug ihr bis zum Hals. Vor Glück, dass sie tatsächlich in Indien war, und vor Aufregung. Die Blicke, die Christian ihr von der anderen Seite des Bootes her zuwarf, und das Lächeln, das immer wieder auf seinem Gesicht lag, halb nervös, halb aufmunternd, verriet, dass es ihm ähnlich ging.

Es war Christians Idee gewesen, ein paar Dutzend Pfund ihres Eises fein zu zerstoßen und in einem Fass an Land zu bringen. Sobald sie aus dem Boot geklettert waren und das Fass über den Sand gerollt hatten, schöpften Katya und Christian mit beiden Händen Schnee und verteilten ihn über den Strand, kneteten Bälle daraus und warfen sie in die Höhe, während sie nur ein einziges Wort wieder und wieder gegen die Brandung anbrüllten.

Eis.

Auch diejenigen in Madras, die nicht wussten, was Eis war, wurden von diesem Schauspiel angelockt. Neugierige ließen sich von Katya und Christian mit dem kalten Pulver die Hand füllen und leckten daran, lachten hell über die Kälte auf ihrer Haut oder griffen sich einen Schneeball aus dem Sand.

Als Christian die ersten Münzen entgegengestreckt wurden, stieg er auf eine Kiste und begann, die Eisblöcke im zweiten Beiboot zu versteigern.