»Haben sie denn wirklich sonst niemanden mehr?«, fragte sie schließlich zweifelnd.
»Seit die Kinder flügge geworden sind, plagst du mich damit, dass du Hilfe willst. Jetzt kommen uns zwei Paar junger Hände ins Haus, für nichts als eine warme Mahlzeit und den Strohsack hinten, und das ist dir auch wieder nicht recht.«
Energisch hieb Pjotr Iwanowitsch etwas Hartes mit dem Beil entzwei.
Grischa hatte genug gehört und ließ den Kopf an die Wand hinter sich sinken.
Dass sie flüchtige Leibeigene waren, wollte Pjotr Iwanowitsch für sich behalten, es sei besser so. Grischa fragte sich trotzdem, wie weit die Lüge der einsamen Waisenkinder sie tragen würde.
Ob Olga Arkadjewna nicht früher oder später Verdacht schöpfen würde. Einer der Gäste oder ein Nachbar oder der Hausbesitzer, der ab und zu vorbeikam, um im Gasthaus von Pjotr Iwanowitsch nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht würde Pjotr Iwanowitsch sie durch einen dummen Zufall verraten, vielleicht Grischa oder Katya selbst.
Für Katya würde es leichter sein. Sie könnte sich immer damit herausreden, dass Grischa sie gezwungen hätte oder sie von nichts wusste; bei einem kleinen Mädchen ließ man bestimmt Gnade vor Recht ergehen.
Katya seufzte im Schlaf. Ein kleines Lächeln zuckte über Grischas Gesicht, während sich in seiner Brust etwas zusammenballte.
Nichts und niemand auf der Welt bedeutete ihm so viel wie Katya, das hatte er wohl erst auf ihrem Marsch durch das Land begriffen, doch die Verantwortung für seine Schwester wog schwer wie ein Mühlstein. Trotzdem war er nicht bereit, die Arbeit auf dem Gehöft gegen die Arbeit in einem Gasthaus einzutauschen. Er wollte mehr.
Grischa zog die Wolldecke bis zu Katyas Kinn hinauf und schlüpfte dann zur Hintertür hinaus, in die Morgensonne, die zwischen den aufreißenden Wolken hindurchblinzelte. An den Hühnern und Gänsen in ihren Käfigen vorbei, die nicht die Macht hatten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Pjotr Iwanowitsch hatte nicht zu viel versprochen.
Die Paläste und herrschaftlichen Häuser und Kirchen, an denen Grischa entlanglief, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Manche davon waren so groß, dass bestimmt sein Heimatdorf hineingepasst hätte, und so hoch, dass Grischa den Kopf in den Nacken legen musste, um sie in ihrer Gänze bewundern zu können. Wie aus dem blauen Himmel und weißen Wolken schienen sie gemacht, und ihre Dächer und Kuppeln glänzten wie Mondlicht und Sonnenschein.
Noch mehr aber gefielen ihm die Werkstätten entlang der schnurgeraden Straßen. Die Läden und Lagerhäuser und die unzähligen Gasthäuser wie das von Pjotr Iwanowitsch, vor denen sich Essensschwaden mit dem beißenden Gestank der Gerbereien mischten.
Staunend stellte Grischa fest, dass es nicht nur Schuhe zu kaufen gab, wie er sie sich ersehnte, sondern auch gute Hemden und Hosen, vornehme Hüte und Mäntel aus Wolle. Helles Brot und Kuchen und Süßgebäck unter glänzender Zuckerkruste. Säcke voller harter schwarzer Bohnen, die einen bitteren Geruch verströmten, wie verbrannt. Fasziniert beobachtete er, wie sie gemahlen wurden, um ein Getränk daraus zu brauen, das ähnlich herb und durchdringend roch.
»Auch eine Tasse Kaffee, der junge Mann?«
Die lächelnd vorgebrachte Einladung des Händlers beantwortete Grischa mit einem verlegenen Kopfschütteln und ging dann weiter. In einer Metzgerei entdeckte er an Haken baumelnde Tierhälften, die ihn rätseln ließen, warum sie so anders aussahen als die Wildschweine, die er aus dem Wald kannte. Bis es ihm dämmerte, dass es offenbar Schweine gab, die andernorts als Schlachtvieh gemästet wurden wie die Rinder des Grundherrn zu Hause. Außerdem aß man in Sankt Petersburg ohne Hemmungen auch Kaninchen.
Ein anderer Händler bestückte gerade aus einem Korb unter seinem Arm die Auslage vor seinem Laden; fremdartige Früchte, die vielleicht auch Gemüse waren.
»Verzeiht, Väterchen. Aber was ist das?«
Grischa deutete auf die rot schimmernden Kugeln, viele davon mit einem Rest trockener Blättchen obenauf wie ein spitzzackiger grüner Stern.
»Das sind Tomaten, Junge«, erklärte der Händler mit nachsichtigem Blick.
»Und das?«
Eiförmige Früchte, wächsern wie ein Talglicht, dabei leuchtend gelb und pockennarbig, das eine Ende knubbelig, das andere spitz zulaufend.
»Zitronen. Aus Italien.«
Kartoffeln, Tee, Mais, Wodka, fragte Grischa sich weiter durch. Wein. Bier. Tabak. Zimt. Gewürznelken. Safran. Senf. Aus Frankreich und Ungarn, Spanien und England und Ceylon, aus einem Indien des Westens und einem des Ostens.
Grischa hatte nicht gewusst, wie rückständig sie auf dem Land und dem Gehöft lebten, von der Hand in den Mund. Hier in Sankt Petersburg sah er zum ersten Mal mit eigenen Augen, was es auf dieser Welt alles gab. Was Wohlstand und Reichtum wirklich bedeuteten.
Dabei bewegte sich Grischa nur durch einen kleinen Teil der Stadt. Mehr als fünfmal so groß wie dieses Viertel war sie, wie Pjotr Iwanowitsch erzählt hatte, mit noch feineren Häusern und mehr Palästen und dem Zarenhof. Wassiljewski war eine der Dutzende von Inseln, auf denen Sankt Petersburg ruhte, halb dem Meer und halb den Sümpfen abgerungen.
Auf den Knochen von Zehntausenden von Leibeigenen erbaut, die den Traum des Zaren wahr gemacht hatten, in Stein und Holz und Marmor, Kupfer und Gold.
Bei den ersten Soldaten, die Grischas Weg kreuzten, sah er sich noch hastig nach einem Fluchtweg um, doch er gewöhnte sich bald an die schneidigen Uniformen in Rot und Blau und Grün, die die Straßen füllten.
Grischa hatte überhaupt noch nie so viele Menschen gesehen, die überall hämmerten und sägten, Körbe voller Waren umherkarrten und verluden, in die Hauseingänge hinein- und wieder herauseilten. Viel zu beschäftigt waren sie, um auf einen Bauerntölpel wie Grischa zu achten, der mit großen Augen umherwanderte, in seiner zu kleinen Jacke aus Schaffell, den löchrigen Bastschuhen an den Füßen und der Hose von Pjotr Iwanowitsch, die er um die Hüften mit einer Schnur zusammengezurrt hatte.
Und dann stand Grischa am Meer wie einst sein Urgroßvater.
Nicht die wilde und überwältigende Weite, die er sich vorgestellt hatte. Die blaue Fläche, die still und zahm vor ihm lag, kam ihm nicht größer vor als der See, den er hinter sich gelassen hatte.
Nur die dunkle Linie des Horizonts versprach Unendlichkeit.
Seine Enttäuschung hielt nicht lange an. Boote und Kähne drängten sich an das Ufer, und am Kai reihten sich Schiffe aneinander, mal schlank und wendig, dann wieder ausladend und behäbig, ihre Masten und Taue ein Wurzelgeflecht, das nicht für die Erde, sondern für den Himmel bestimmt zu sein schien.
Während die Wellen behäbig an den Kai schlugen, verfolgte Grischa gebannt die heranrumpelnden und wieder wegrollenden Karren. Säcke und Kisten wurden hin und her gewuchtet, hier an Seilen hinaufgezogen und anderswo herabgelassen und zappelndes Vieh verfrachtet, das blökte und meckerte, grunzte und quiekte.
Geschäftig wimmelte es auf den Schiffen bis in die Masten hinauf; sehnige und muskulöse Männer, die Gesichter hart und sonnenverbrannt, deren Handgriffe einem geheimen Muster folgten. Nicht viel besser gekleidet als Grischa, ging von diesen Männern am Kai trotzdem eine selbstsichere Zielstrebigkeit aus, die ihn einschüchterte.
Die Kommandos, die sie einander wie aus einer fremden Sprache entgegenschleuderten, ließen Grischas Herz höherschlagen, und die heiseren Schreie der Vögel zerrten ebenso an ihm wie der auffrischende Wind.
Sankt Petersburg mochte das Fenster zum Westen sein. Aber diese Schiffe hier waren die Türen zur großen weiten Welt.
Grischa nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach den erstbesten Seemann an, ob es auf dessen Schiff vielleicht Arbeit für ihn gab.
Seit Grischa sie durch den Regen zu dem Fuhrwerk getragen hatte, taumelte Katya wie durch zähen Nebel. Während sie auf der Ladefläche, eingepfercht zwischen Hühnern und Gänsen, durchgeschüttelt worden war. Als robuste Frauenhände ihr die nassen Sachen vom Leib zogen, Katya in ein heißes Bad steckten und sie in geliehenen Kleidern etwas Warmes in den Magen bekam.