»Alles okay mit mir«, versicherte ich ihm mürrisch. Ich war immer noch gereizt und alles andere als in Plauderstimmung.
»Was hat der Doktor gesagt?«
»Dr. Cullen hat mich untersucht und gesagt, dass mir nichts fehlt und dass ich nach Hause gehen kann.« Ich seufzte. Mike, Jessica, Eric – alle waren da und kamen langsam näher. »Lass uns fahren«, drängte ich.
Charlie hielt seine Hand schützend hinter meinen Rücken, ohne mich zu berühren, und führte mich durch die Glastüren nach draußen. Ich winkte meinen Freunden verlegen zu, in der Hoffnung, dass sie sich keine Sorgen mehr um mich machten. Es war eine enorme Erleichterung, in den Streifenwagen zu steigen – das war mir vorher auch noch nicht passiert.
Wir fuhren schweigend. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich Charlie neben mir kaum wahrnahm. Edwards abwehrendes Verhalten im Gang hatte meine Gewissheit nur bestärkt, dass die bizarren Dinge, die ich gesehen hatte und an die ich selber kaum glauben konnte, wirklich passiert waren.
Charlie bekam seinen Mund nicht auf, bis wir zu Hause waren.
»Ähm … vielleicht solltest du Renée anrufen.« Schuldbewusst ließ er den Kopf hängen.
Ich war entsetzt. »Du hast es Mom gesagt?!«
»Tut mir leid.«
Beim Aussteigen schlug ich die Tür des Streifenwagens etwas heftiger als notwendig zu.
Mom war, wie nicht anders zu erwarten, vollkommen aufgelöst. Ich musste ihr bestimmt dreißig Mal beteuern, dass es mir gutging, bevor sie sich halbwegs beruhigte. Dann flehte sie mich an, nach Hause zu kommen – als würde dort mehr auf mich warten als eine leere Wohnung. Ich war überrascht, wie leicht es mir fiel, ihren Bitten zu widerstehen. Edwards Geheimnis hatte mich in seinen Bann gezogen. Und er selber auch, mehr als nur ein bisschen. Dumm, dumm, dumm – genau das war es. Ich war bei weitem nicht mehr so erpicht darauf, Forks zu verlassen, wie ich es sein sollte – wie es jeder normale, vernünftige Mensch wäre.
Genervt von Charlies sorgenvollen Blicken, entschloss ich mich, zeitig schlafen zu gehen. Ich holte mir drei Tylenol aus dem Badezimmer. Sie halfen tatsächlich, und als der Schmerz langsam nachließ, schlief ich ein.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von Edward Cullen.
EIN GEFRAGTES MÄDCHEN
In meinem Traum war es sehr dunkel, und das wenige, trübe Licht schien von Edwards Haut abzustrahlen. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur seinen Rücken; er ging weg von mir und ließ mich in der Dunkelheit zurück. So schnell ich auch rannte, ich konnte ihn nicht erreichen; so laut ich auch rief, er drehte sich nicht um. Mitten in der Nacht wachte ich auf, erfüllt von Verzweiflung, und konnte lange – es fühlte sich an wie Stunden – nicht mehr einschlafen. Von da an tauchte er fast jede Nacht in meinen Träumen auf, aber immer in der Distanz, nie in greifbarer Nähe.
Der Monat nach dem Unfall war geprägt von Unbehagen und Anspannung, doch zunächst vor allem von Peinlichkeit.
Zu meiner Bestürzung fand ich mich für den Rest der Woche im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder. Tyler Crowley war unmöglich: Er folgte mir auf Schritt und Tritt und wollte unbedingt irgendwie Buße tun. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass ich mir wünschte, er würde die Sache einfach vergessen, vor allem, da mir überhaupt nichts passiert war. Doch er blieb hartnäckig: In den Pausen wich er nicht von meiner Seite und mittags saß er jetzt auch an unserem mittlerweile überfüllten Tisch. Mike und Eric verhielten sich ihm gegenüber noch feindseliger als untereinander, was mich befürchten ließ, einen unerwünschten Bewunderer mehr zu haben.
Niemand schien sich für Edward zu interessieren, obwohl ich nicht müde wurde zu erklären, dass er der Held war – dass er mich vor dem Van weggezogen hatte und dabei selber fast zerquetscht worden wäre. Ich bemühte mich, überzeugend zu klingen. Aber Jessica, Mike, Eric und alle anderen sagten nur immer wieder, dass sie ihn nicht einmal gesehen hatten, bevor der Van beiseitegeschoben wurde.
Ich fragte mich, warum niemand sonst aufgefallen war, wie weit weg er von mir gestanden hatte, bevor er plötzlich und auf unerklärliche Weise mein Leben rettete. Zu meinem Verdruss wurde mir klar, dass es nur daran liegen konnte, dass ihm niemand außer mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Keiner beachtete ihn auf dieselbe Weise wie ich. Wie armselig.
Edward war nie von neugierigen Leuten umringt, die aus erster Hand erfahren wollten, was geschehen war. Man ging ihm wie üblich aus dem Weg. Die Cullens und die Hales saßen am selben Tisch wie immer, aßen nichts und sprachen mit niemandem. Keiner von ihnen schaute mehr in meine Richtung, vor allem Edward nicht.
Wenn wir im Unterricht nebeneinandersaßen, rückte er so weit wie möglich von mir weg und schien meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Nur hin und wieder, wenn seine Hände sich plötzlich zu Fäusten ballten und seine über den Knöcheln gespannte Haut sich noch weißer färbte, als sie ohnehin schon war, fragte ich mich, ob er wirklich so abwesend war, wie es den Anschein hatte.
Er bereute es, mich aus dem Weg gezogen zu haben, als Tylers Van auf mich zukam – eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.
Ich hätte sehr gern mit ihm geredet, und am Tag nach dem Unfall versuchte ich es auch. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, im Gang vor der Notaufnahme, waren wir beide so wütend gewesen. Außerdem war ich immer noch sauer, dass er mir nicht die Wahrheit sagte, obwohl ich meinen Teil der Vereinbarung zu hundert Prozent einhielt. Doch andererseits hatte er mein Leben gerettet, egal wie. Und über Nacht hatte sich mein Zorn in ehrfürchtige Dankbarkeit verwandelt.
Er saß bereits an seinem Platz, als ich den Bioraum betrat, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ich setzte mich und wartete darauf, dass er sich mir zuwendete, doch er ließ nicht erkennen, ob er meine Ankunft überhaupt bemerkt hatte.
»Hallo, Edward«, sagte ich freundlich und betont unbeschwert, um ihm zu zeigen, dass ich mich benehmen würde.
Er drehte seinen Kopf kaum wahrnehmbar in meine Richtung, ohne dabei meinen Blick zu erwidern; dann nickte er einmal und wandte sich wieder ab.
Seitdem hatte ich es nicht noch einmal versucht, obwohl er jeden Tag neben mir saß, weniger als einen halben Meter entfernt. Manchmal, wenn ich mich nicht beherrschen konnte, beobachtete ich ihn, doch immer nur von fern, in der Cafeteria oder auf dem Parkplatz. Ich sah, wie seine goldenen Augen von Tag zu Tag merklich dunkler wurden. Doch während des Unterrichts beachtete ich ihn ebenso wenig wie er mich. Ich fühlte mich elend. Und die Träume hielten an.
Meinen schamlosen Lügen zum Trotz merkte Renée meinen E-Mails an, dass ich niedergeschlagen war, und rief einige Male besorgt an. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass es lediglich am Wetter lag.
Wenigstens einen gab es, der froh über die offensichtlich eisige Stimmung zwischen mir und meinem Banknachbarn war: Mike. Er hatte wohl zunächst befürchtet, dass Edwards mutige Rettungsaktion mich schwer beeindrucken würde, und war nun augenscheinlich erleichtert, dass sie den umgekehrten Effekt zu haben schien. Jeden Tag saß er wie selbstverständlich vor Beginn der Biostunde auf meiner Tischkante, um sich mit mir zu unterhalten, und ignorierte dabei Edward ebenso konsequent wie dieser uns.
Nach jenem gefährlich glatten Tag war der Schnee endgültig geschmolzen. Mike war enttäuscht, dass aus seiner großen Schneeballschlacht nichts geworden war, zugleich aber freute er sich, dass dafür der Strandausflug bald stattfinden konnte. Zunächst jedoch regnete es unvermindert stark weiter, und die Wochen vergingen.
Am ersten Dienstag im März rief mich Jessica an, um mir vom Frühjahrsball zu erzählen, der zwei Wochen später stattfinden sollte. Sie wollte Mike auffordern, mit ihr zu gehen – es war Damenwahl –, und fragte mich um Erlaubnis.
»Und es macht dir nichts aus? … Ganz sicher? … Du wolltest ihn wirklich nicht fragen?«, hakte sie immer wieder nach, als ich ihr sagte, dass ich nicht das Geringste dagegen hatte.