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»Nein.« Ich wollte ihm nicht sagen, dass mein Bauch längst voll war – mit Schmetterlingen. »Und du?«

»Ich? Nein, ich hab keinen Hunger.« Ich hatte keine Ahnung, was es war, aber irgendwas daran fand er irre komisch.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich nach kurzem Zögern.

Mit einem Mal war er argwöhnisch. »Das kommt ganz drauf an.«

»Es ist nur ein kleiner«, versicherte ich ihm.

Er wartete – reserviert, aber neugierig.

»Ich dachte nur … vielleicht könntest du mich beim nächsten Mal vorher warnen, wenn du beschließt, mich zu meiner eigenen Sicherheit zu ignorieren? Dann kann ich mich drauf einstellen.« Ich betrachtete beim Sprechen die Limoflasche und ließ meinen kleinen Finger auf dem Rand der Öffnung kreisen.

»Das kann ich wohl kaum abschlagen.« Als ich aufblickte, kniff er seine Lippen zusammen, um nicht lachen zu müssen.

»Danke.«

»Krieg ich im Gegenzug eine Antwort?«, wollte er wissen.

»Eine.«

»Eine deiner Theorien?«

Oje. »Nicht das.«

»Du hast mir eine Antwort versprochen, von Einschränkungen war keine Rede«, erinnerte er mich.

»Und du hast selber Versprechen gebrochen«, erinnerte ich ihn meinerseits.

»Nur eine Theorie – ich lache auch nicht.«

»Klar lachst du.« Ich war mir sicher.

Er senkte den Blick, dann schaute er durch seine langen Wimpern zu mir hoch.

Seine ockerfarbenen Augen glühten.

»Bitte«, flüsterte er und lehnte sich näher zu mir.

Ich blinzelte hilflos und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Herrgott noch mal, wie machte er das?

»Äh, was?«, fragte ich benommen.

»Verrätst du mir bitte eine kleine Theorie?« Sein Blick brannte sich weiter in meinen.

»Äh, also, hat dich vielleicht eine radioaktive Spinne gebissen?« War er etwa auch noch Hypnotiseur? Oder war ich einfach nur ein hoffnungslos leichtes Opfer?

»Das ist nicht gerade originell«, spottete er.

»Tut mir leid, mehr fällt mir nicht ein«, sagte ich beleidigt.

»Das war noch nicht einmal nah dran«, zog er mich auf.

»Keine Spinnen?«

»Keine Spinnen.«

»Und keine Radioaktivität?«

»Nein.«

»Mist«, seufzte ich.

»Kryptonit macht mir auch nichts aus«, sagte er schmunzelnd.

»Du wolltest nicht lachen.«

Er versuchte sich zu beherrschen.

»Irgendwann krieg ich es raus«, warnte ich ihn.

»Ich wünschte, du würdest es nicht probieren.« Er war auf einmal wieder vollkommen ernst.

»Weil …?«

»Was, wenn ich kein Superheld bin? Was, wenn ich der Böse bin?« Er lächelte, doch seine Augen waren unergründlich.

Und mit einem Mal ergaben die Andeutungen, die er immerfort machte, einen Sinn. »Oh«, sagte ich. »Verstehe.«

»Ach, ja?« Seine Miene verfinsterte sich plötzlich, als befürchtete er, versehentlich zu viel gesagt zu haben.

»Du bist gefährlich?« Mein Puls wurde schneller; ich war mir plötzlich sicher, dass es stimmte – er war gefährlich. Die ganze Zeit schon hatte er versucht, es mir zu sagen.

Er schaute mich nur an, mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.

»Aber nicht böse«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass du böse bist.«

»Du irrst dich.« Seine Stimme war kaum hörbar. Er senkte den Blick, nahm mir die Verschlusskappe weg und ließ sie seitlich zwischen seinen Fingern kreiseln. Ich starrte ihn an und fragte mich, warum ich keine Angst hatte. Er meinte ernst, was er sagte, das war offensichtlich. Aber ich war lediglich nervös und aufgeregt … und vor allem fasziniert. So, wie ich mich in seiner Nähe immer fühlte.

Unser Schweigen hielt an, bis mir auffiel, dass die Cafeteria fast leer war.

Ich sprang auf. »Wir kommen zu spät.«

»Ich gehe heute nicht zu Bio«, sagte er und ließ die Kappe so schnell kreiseln, dass sie mir vor den Augen verschwamm.

»Warum nicht?«

»Es ist gut für die Gesundheit, gelegentlich zu schwänzen.« Er lächelte, doch seine Augen blickten noch immer sorgenvoll.

»Ich gehe jedenfalls hin«, sagte ich ihm. Ich traute mich nicht zu schwänzen, aus Angst, dass Charlie es erfahren würde.

Er wandte sich wieder der Kappe zu. »Dann bis später.«

Ich zögerte, hin-und hergerissen, doch als es klingelte, lief ich zur Tür, von wo ich mich ein letztes Mal umsah: Er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt.

Als ich halb im Laufschritt zu Bio eilte, kreiselten die Gedanken in meinem Kopf schneller als die Verschlusskappe der Flasche zwischen seinen Fingern. Kaum Antworten, dafür lauter neue Fragen. Wenigstens regnete es nicht mehr.

Zum Glück war Mr Banner noch nicht da, als ich ankam. Ich setzte mich rasch auf meinen Platz und sah, dass Mike und Angela mich anstarrten – Mike verärgert, Angela überrascht und ein wenig ehrfurchtsvoll.

Dann betrat Mr Banner den Raum und bat um Ruhe. Auf seinen Armen balancierte er einige kleine Pappschachteln, die er auf Mikes Tisch abstellte; Mike sollte sie in der Klasse verteilen.

»Okay, ihr nehmt jetzt jeweils einen Gegenstand aus jeder Schachtel.« Während er sprach, holte er ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche seines Laborkittels und zog sie über seine Finger. Das scharfe, klatschende Geräusch des straffen Gummis an seinen Handgelenken war mir nicht geheuer. »In der ersten Schachtel sind Indikatorkarten«, fuhr er fort und hielt eine weiße Karte mit vier Feldern darauf hoch. »In der zweiten vierzinkige Applikatoren« – er hielt etwas hoch, das wie ein fast zahnloser Kamm aussah – »und in der dritten haben wir sterile Mikrolanzetten.« Er hielt ein kleines blaues Plastiktütchen hoch und riss es auf. Die Spitze konnte man zwar aus der Entfernung nicht sehen, aber mein Magen spielte trotzdem verrückt.

»Ich komme gleich mit einer Wasserpipette herum, um die Karten zu präparieren, also fangt bitte nicht an, bevor ich bei euch war.« Er begann wieder bei Mike; sorgfältig tröpfelte er Wasser auf jedes der vier Felder. »Als Nächstes stecht ihr dann vorsichtig mit der Lanzette in euren Finger …« Er griff nach Mikes Hand und pikste die Spitze in die Kuppe von Mikes Mittelfinger. O Gott. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn.

»Ihr setzt einen kleinen Tropfen Blut auf jede der Zinken.« Er drückte Mikes Finger, bis das Blut austrat. Ich schluckte krampfartig – mein Magen rebellierte.

»Und dann tragt ihr das Blut mit Hilfe des Applikators auf die Karte auf. So.« Er hielt die tropfende rote Karte hoch. Ich schloss die Augen und versuchte durch das Rauschen in meinen Ohren noch etwas zu hören.

»Das Rote Kreuz veranstaltet am kommenden Wochenende in Port Angeles einen Blutspendetag – ich dachte mir, da solltet ihr eure Blutgruppe kennen.« Er war sichtlich stolz auf seine Idee. »Diejenigen unter euch, die noch nicht achtzehn sind, brauchen eine Erlaubnis der Eltern. Vordrucke liegen auf meinem Tisch.«

Er kam mit seiner Pipette durch den Raum. Ich legte meine Wange auf die kühle schwarze Tischplatte und versuchte nicht ohnmächtig zu werden. Um mich herum hörte ich, wie die anderen quietschten, meckerten und kicherten, als sie sich das spitze Metall in ihre Finger bohrten. Langsam atmete ich durch den Mund ein und aus.

»Bella, geht’s dir nicht gut?«, fragte Mr Banner. Seine Stimme war direkt neben mir und klang besorgt.

»Ich kenne meine Blutgruppe schon, Mr Banner«, sagte ich schwach. Ich hatte Angst, meinen Kopf zu heben.

»Ist dir schwindlig?«

»Ja, Sir«, murmelte ich. Warum musste ich auch unbedingt zu Bio gehen!

»Kann jemand Bella zur Schwester bringen, bitte!«, rief er.

Ich musste nicht aufschauen, um zu wissen, dass Mike sich meldete.

»Kannst du laufen?«, fragte Mr Banner.

»Ja«, flüsterte ich. Ich will bitte einfach nur raus hier, dachte ich. Wenn’s sein muss, auch auf allen vieren.

Mike schien es kaum abwarten zu können, seinen Arm um meine Hüfte und meinen Arm über seine Schultern zu legen. Ich lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht an ihn, und so wankten wir aus dem Klassenraum.