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Ich musste dringend nach draußen, aber es gab keinen Ort, zu dem es mich zog, der weniger als drei Tagesreisen entfernt war. Nichtsdestotrotz zog ich meine Stiefel an und ging runter. Ohne zu schauen, wie das Wetter war, zog ich mir meine Regenjacke über und stapfte nach draußen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte.

Es war bewölkt, aber vorerst regnete es nicht. Ich ließ den Transporter stehen, durchquerte Charlies Garten und betrat den Wald, der sich endlos vor mir ausbreitete. Es dauerte nicht lange, und ich war so tief hineingelaufen, dass ich weder Haus noch Straße sehen konnte und nichts mehr zu hören war außer dem schmatzenden Geräusch der nassen Erde unter meinen Füßen und den jähen Schreien der Eichelhäher.

Ich lief einen schmalen Pfad entlang – wäre der nicht gewesen, hätte ich mich nie so weit hineingetraut. Mein Orientierungssinn war eigentlich gar nicht vorhanden; ich schaffte es auch, mich in sehr viel übersichtlicheren Umgebungen zu verlaufen. Der Pfad schlängelte sich tiefer und tiefer in den Wald hinein, zumeist in östlicher Richtung, soweit ich das beurteilen konnte. Er umkurvte Sitkafichten und Schierlingstannen, Eiben und Ahornbäume. Die meisten Baumarten um mich herum konnte ich allerdings nur ungefähr bestimmen – die wenigen Kenntnisse, die ich über sie hatte, waren Charlie zu verdanken, der mich früher immer auf sie hingewiesen hatte. Viele Bäume kannte ich nicht, und bei anderen war ich mir nicht sicher, weil sie zum großen Teil von Flechten und Moosen überzogen waren.

Solange mein Ärger über mich selbst anhielt, trieb er mich hastig voran; als er nachließ, wurde ich langsamer. Feuchtigkeit sickerte durch die grüne Kuppel über mir und tröpfelte hier und da zu Boden. Begann es zu regnen, oder war es nur das Wasser, das sich gestern hoch in der Luft auf den Blättern gesammelt hatte und sich nun langsam seinen Weg zurück zur Erde bahnte? Ich wusste es nicht. Ein umgefallener Baum, der noch nicht vollständig von Moos überzogen war, lehnte am Stamm eines gesunden Baumes und bildete einen geschützten kleinen Sitz in sicherer Nähe zum Weg. Ich machte einen Schritt über die Farne hinweg und setzte mich vorsichtig hin, wobei ich genau darauf achtete, dass sich meine Jacke zwischen dem nassen Holz und meiner Hose befand. Dann lehnte ich mich mit der Kapuze gegen den Stamm.

Das war nicht der richtige Ort für diesen Augenblick. Ich hätte es wissen müssen – aber wo hätte ich sonst hingehen sollen? Der Wald war tiefgrün und ähnelte so sehr dem Schauplatz meines Traumes, dass ich hier nicht zur Ruhe kommen konnte. Die Stille war allumfassend, jetzt, da das Geräusch meiner nassen Stiefel nicht mehr zu hören war. Selbst die Vögel schwiegen, die Tropfen dagegen fielen immer schneller

– über dem Blätterdach regnete es wohl. So, wie ich dasaß, reichten die Farne höher als mein Kopf; wenn jemand auf dem Pfad vorbeikäme, dachte ich, würde er mich vermutlich nicht sehen, obwohl er nur seine Hand ausstrecken müsste, um mich zu berühren.

Hier, zwischen all den Bäumen, fiel es mir sehr viel leichter, den absurden Dingen Glauben zu schenken, die mir gerade noch so peinlich gewesen waren. Seit Jahrtausenden hatte sich in diesem grünen Labyrinth nichts verändert, und die Mythen und Legenden Hunderter verschiedener Länder erschienen mir plötzlich sehr viel wahrscheinlicher als kurze Zeit vorher, in den vier Wänden meines Zimmers.

Es gab zwei Fragen, die ich dringender als alle anderen beantworten musste. Ich zwang mich, sie nicht länger vor mir herzuschieben, doch ich tat es mit Unwillen.

Erstens musste ich mir darüber klarwerden, ob es stimmen konnte, was Jacob über die Cullens gesagt hatte.

Sofort protestierte mein Intellekt laut und deutlich dagegen, die Möglichkeit überhaupt nur zu erwägen – es war dumm und morbide, solchen lächerlichen Gedanken nachzugehen. Andererseits gab es keine vernünftige Erklärung dafür, dass ich noch am Leben war. Einmal mehr ging ich in Gedanken alles durch, was ich selbst beobachtet hatte: die übermenschliche Geschwindigkeit und Stärke, die wechselnde Augenfarbe – von Schwarz zu Gold und wieder zurück. Die unglaubliche Schönheit, die blasse, kalte Haut. Und dann die kleinen Sachen, die mir erst nach und nach aufgefallen waren – dass sie nie zu essen schienen oder die unheimliche Anmut ihrer Bewegungen. Und die Art, wie sich Edward manchmal ausdrückte – so gewählt, dass es eher in einen Fin-de-Siècle-Roman passte als in ein Klassenzimmer des 21. Jahrhunderts. An dem Tag, als wir unsere Blutgruppen bestimmen sollten, war er nicht zum Unterricht gekommen, und den Strandausflug hatte er erst abgesagt, als er hörte, wohin wir wollten. Er schien die Gedanken aller Leute in seiner Umgebung lesen zu können … außer meine. Er hatte mir gesagt, dass er gefährlich war …

War es möglich, dass die Cullens Vampire waren?

Irgendwie anders waren sie jedenfalls, das stand fest. Irgendwas, das den Rahmen rationaler Erklärungen sprengte, spielte sich vor meinen ungläubigen Augen ab. Ob nun eines von Jacobs kalten Wesen oder ein Superheld, Edward Cullen war jedenfalls kein … Mensch. Er war mehr als das.

Die Antwort lautete also: Vielleicht. Das musste für den Augenblick genügen.

Was mich zur wichtigsten Frage überhaupt brachte: Was, wenn es so war?

Wenn Edward – und alles in mir sträubte sich dagegen, es auch nur in Gedanken zu formulieren – ein Vampir war, was sollte ich dann tun? Jemanden einzuweihen, kam definitiv nicht in Frage. Ich glaubte es mir ja nicht einmal selber; jeder, dem ich es erzählte, würde mich augenblicklich einweisen lassen.

Es gab anscheinend nur zwei praktikable Möglichkeiten. Die eine bestand darin, seinen Rat zu befolgen: klug zu sein und ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Unsere Verabredung abzusagen und mir alle Mühe zu geben, ihn zu ignorieren, genau wie am Anfang. So zu tun, als befände sich zwischen uns eine undurchdringliche dicke Glaswand, wenn wir eine Stunde am Tag gezwungen waren nebeneinanderzusitzen. Ihm zu sagen, er solle mich in Ruhe lassen – und es dieses Mal ernst zu meinen.

Bei dem bloßen Gedanken daran durchfuhr mich heftigste Verzweiflung, und ich wandte meine Aufmerksamkeit schnellstens der zweiten Möglichkeit zu.

Ich konnte genauso weitermachen wie bisher. Selbst wenn etwas … Böses in ihm war – mir hatte er bisher nichts getan. Im Gegenteil, hätte er nicht so schnell gehandelt, wäre ich jetzt bloß noch eine Delle in Tylers Kotflügel. So schnell gehandelt, überlegte ich, dass es wahrscheinlich purer Reflex gewesen war. Wenn es aber einer seiner Reflexe war, Leben zu retten, wie böse konnte er dann sein? Mein Kopf schwirrte vor Fragen, auf die ich keine Antwort hatte.

Wenn es irgendetwas gab, dessen ich mir sicher war, dann das: Der finstere Edward in meinem Traum war ein Abbild meiner Angst vor dem Wort, das Jacob gebraucht hatte, nicht aber vor Edward selber. Und trotz dieser Angst war es nicht die Sorge um den Wolf gewesen, die mich entsetzt »nein« schreien ließ, sondern die Befürchtung, dass ihm etwas zustoßen könnte. Selbst als er mich mit spitzen Fangzähnen zu sich rief, fürchtete ich noch für sein Leben.

Und damit, das war klar, hatte ich meine Antwort. Ich wusste nicht, ob es überhaupt eine wirkliche Wahl gegeben hatte – ich steckte schon viel zu tief drin. Jetzt, da ich Bescheid wusste – falls ich Bescheid wusste –, gab es nichts, was ich mit meinem schaurigen Geheimnis anfangen konnte. Denn wenn ich an ihn dachte, an seine Stimme, seinen hypnotischen Blick, seine fast magnetische Anziehungskraft, sein ganzes Wesen, dann wollte ich nichts mehr als sofort bei ihm sein. Selbst wenn … Doch ich brachte es nicht fertig, das zu denken. Nicht, während ich allein im Wald war, der sich immer mehr verdunkelte. Nicht, während der Regen plätscherte, als trippelte jemand über den von Flechten bedeckten Erdboden. Nicht, während sich die Taghelle unter dem Blätterdach in trübes Dämmerlicht verwandelte. Ich erschauderte und sprang hastig aus meinem Versteck auf, erfüllt von der plötzlichen Befürchtung, der Pfad könnte im Regen irgendwie verschwunden sein.