Doch er war da, klar und deutlich, ein sicherer Schlängelweg hinaus aus dem tropfenden grünen Labyrinth. Ich zog meine Kapuze eng um mein Gesicht zusammen und lief eilig zurück – ich rannte fast unter den Bäumen entlang. Es erstaunte mich, wie weit ich in den Wald gegangen war, und ich begann mich zu fragen, ob ich womöglich immer tiefer hineinlief anstatt hinaus, doch bevor die Panik von mir Besitz ergreifen konnte, blickte ich durch das Geflecht der Zweige auf offenes Gelände. Dann hörte ich ein Auto vorbeifahren, und kurz darauf trat ich aus dem Wald hinaus ins Freie; vor mir breitete sich Charlies Rasen aus, und das Haus lockte mit dem Versprechen von Wärme und trockenen Socken.
Es war gerade mal Mittag, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich ging hoch in mein Zimmer und zog mir trockene Jeans und ein T-Shirt an; ich hatte nicht die Absicht, noch mal nach draußen zu gehen. Es fiel mir leicht, mich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, einen Aufsatz über Macbeth, der am Mittwoch fällig war. Zufrieden machte ich mich an die Ausarbeitung eines groben Konzepts. Seit Tagen war ich nicht von einer solchen inneren Ruhe erfüllt gewesen wie in diesem Augenblick … seit Donnerstagabend, wenn ich ehrlich zu mir war.
Doch so war das schon immer gewesen bei mir: Mit den Entscheidungen quälte ich mich herum, doch wenn sie erst mal getroffen waren, hielt ich konsequent an ihnen fest – in der Regel voller Erleichterung darüber, dass die Sache beschlossen und besiegelt war. Manchmal wurde die Erleichterung von Schwermut getrübt, wie bei meinem Entschluss, nach Forks zu gehen. Aber das war immer noch besser, als sich ewig mit den Alternativen herumzuschlagen.
Und die Entscheidung, die ich eben gefällt hatte, war lächerlich leicht zu befolgen.
Gefährlich leicht.
Es wurde also ein ruhiger und produktiver Tag; ich war vor acht mit meinem Aufsatz fertig. Charlie kam mit einem kapitalen Fang nach Hause, und ich nahm mir vor, nächste Woche in Seattle ein Fischkochbuch zu besorgen. Die Schauer, die mir beim Gedanken an diesen Ausflug über den Rücken liefen, waren noch dieselben wie vor meinem Spaziergang mit Jacob Black. Sie sollten sich verändert haben, dachte ich – ich sollte mich fürchten. Ich wusste das, doch ich war außer Stande, Angst zu empfinden.
In dieser Nacht schlief ich traumlos, erschöpft vom langen Tag und von der unruhigen letzten Nacht. Als ich erwachte, wurde ich zum zweiten Mal seit meiner Ankunft in Forks vom strahlenden Licht eines sonnigen Tages begrüßt. Ich sprang zum Fenster und sah zu meiner Verblüffung, dass der Himmel fast vollständig blau war, mit Ausnahme von ein paar fluffigen kleinen weißen Wölkchen, die unmöglich Regen enthalten konnten. Ich öffnete das Fenster – ich war überrascht, dass es weder klemmte noch knarrte, schließlich hatte ich es seit wer weiß wie vielen Jahren nicht geöffnet – und atmete die verhältnismäßig trockene Luft ein. Es war beinahe warm und es ging fast kein Wind. Prickelnd schoss mir das Blut durch die Adern.
Charlie beendete gerade sein Frühstück, als ich runterkam, und freute sich über meine gute Laune.
»Schönes Wetter, oder?«
»Ja«, stimmte ich grinsend zu.
Er lächelte zurück und bekam dabei lauter kleine Fältchen um seine braunen Augen. Wenn Charlie lächelte, war es leichter zu verstehen, wie es damals passieren konnte, dass meine Mutter und er so früh und überstürzt heirateten. Aber schon bevor ich ihn kannte, war von dem jungen Romantiker jener Tage wenig übrig geblieben; er war ebenso verschwunden wie die volle Pracht seiner braunen Locken. Seine Haare hatten dieselbe Farbe wie meine, wenn auch nicht dieselbe Beschaffenheit, und nach und nach hatten sie immer mehr von seiner Stirn entblößt. Doch wenn er lächelte, sah ich in ihm etwas von dem Mann, mit dem Renée durchgebrannt war, als sie gerade mal zwei Jahre älter war als ich jetzt.
Ich frühstückte in bester Laune und betrachtete den Tanz der Staubflocken im Sonnenlicht, das durch das hintere Fenster in die Küche fiel. Charlie verabschiedete sich, und ich hörte, wie sich der Streifenwagen entfernte. Beim Rausgehen griff ich nach meiner Regenjacke und zögerte: Sollte ich sie mitnehmen oder nicht? Sie hierzulassen hieße das Schicksal herauszufordern. Seufzend faltete ich sie über meinem Arm und trat hinaus in das hellste Licht, das ich seit Monaten gesehen hatte.
Ich musste ein wenig Gewalt anwenden, aber es gelang mir, beide Fenster des Transporters fast vollständig herunterzukurbeln. Ich war eine der Ersten in der Schule; ich hatte es so eilig gehabt, nach draußen zu kommen, dass ich gar nicht auf die Zeit geachtet hatte. Ich parkte und ging zu den selten benutzten Pausenbänken hinter der Cafeteria. Sie waren noch ein wenig feucht, also setzte ich mich auf meine Jacke, die so auch zu etwas gut war. Meine Hausaufgaben waren – dank meines stagnierenden Soziallebens – eigentlich erledigt, doch es gab ein paar knifflige Gleichungen in Mathe, bei denen ich mir nicht sicher war. Ich holte mein Buch aus der Tasche, aber noch während ich die erste Aufgabe durchging, träumte ich schon vor mich hin und betrachtete versunken das Spiel des Sonnenlichtes auf der roten Rinde der Bäume. In Gedanken kritzelte ich am Rand meiner Hausaufgaben herum. Nach ein paar Minuten bemerkte ich, dass ich fünf dunkle Augenpaare gezeichnet hatte, die vom Blatt zu mir hochstarrten. Ich radierte sie aus.
»Bella!«, hörte ich jemanden rufen; es klang ganz nach Mike. Ich schaute mich um; während ich hier gedankenverloren saß, hatte sich das Schulgelände mit Leben gefüllt. Alle trugen T-Shirts, einige sogar kurze Hosen, obwohl es kaum wärmer als siebzehn oder achtzehn Grad sein konnte. Mike winkte und kam in khakifarbenen Shorts und einem gestreiften Rugby-Shirt auf mich zu.
»Hey, Mike«, rief ich und winkte zurück – an einem Morgen wie diesem war ich zum Überschwang geradezu verdammt.
Er setzte sich zu mir; die akkurat gegelten Stacheln seiner Haare schimmerten golden in der Sonne, und er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Er war so glücklich, mich zu sehen, dass ich gar nicht anders konnte, als mich darüber zu freuen.
»Ist mir noch nie aufgefallen, dass deine Haare einen Rotstich haben«, stellte er fest und nahm eine Strähne zwischen seine Finger, die von der leichten Brise nach vorn geweht worden war.
»Nur in der Sonne.«
Als er die Locke hinter mein Ohr steckte, war mir das ein bisschen unangenehm.
»Super Wetter, oder?«
»So, wie ich es mag«, sagte ich.
»Was hast du denn gestern gemacht?« Sein Ton war etwas zu besitzergreifend.
»Hauptsächlich an meinem Aufsatz geschrieben.« Ich erwähnte nicht, dass er schon fertig war – kein Grund zur Überheblichkeit.
Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Der Aufsatz, stimmt – bis Donnerstag, oder?«
»Äh, bis Mittwoch, glaub ich.«
»Mittwoch?« Er runzelte die Stirn. »Das ist nicht gut … Worüber schreibst du deinen?«
»Darüber, ob Shakespeares Darstellung von weiblichen Figuren frauenfeindlich ist.«
Er schaute mich verständnislos an.
»Ich nehm an, ich werd mich da heute Abend ransetzen müssen«, sagte er trübsinnig. »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir mal zusammen ausgehen.«
»Oh.« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Warum war es nicht mehr möglich, nett mit Mike zu plaudern, ohne dass es irgendwann unbehaglich wurde?
»Ich meine, wir könnten was essen gehen oder so … und ich könnte dann später noch schreiben.« Er lächelte mich hoffnungsvoll an.
»Mike …« Ich hasste es, so in die Enge getrieben zu werden. »Ich glaub nicht, dass das so eine gute Idee wäre.«
Er machte ein langes Gesicht. »Warum?«, fragte er. Sein Blick war wachsam. Mich durchzuckte der Gedanke an Edward, und ich fragte mich, ob es ihm genauso ging.