»Ich glaube … und wenn du irgendwas von dem, was ich dir jetzt sage, weitererzählst, schlage ich dich tot, ohne mit der Wimper zu zucken«, drohte ich – »also, ich glaube, das würde Jessica verletzen.«
Er war verdattert; an so etwas hatte er offensichtlich noch gar nicht gedacht. »Jessica?«
»Ehrlich, Mike, bist du blind?«
»Oh«, murmelte er, eindeutig verwirrt. Ich nutzte das aus und stand auf.
»Wir müssen los, ich kann nicht schon wieder zu spät kommen.« Ich sammelte meine Bücher zusammen und stopfte sie in meine Tasche.
Schweigend gingen wir zu Haus drei; seine Miene verriet, dass er in Gedanken versunken war. Welcher Art sie auch waren – ich hoffte, dass sie ihm die richtige Richtung wiesen.
Als ich in Mathe Jessica traf, sprühte sie vor Begeisterung. Sie, Angela und Lauren hatten beschlossen, nach der Schule nach Port Angeles zu fahren, um sich Kleider für den Ball zu kaufen, und sie wollte, dass ich mitkam, obwohl ich selber keins brauchte. Ich war unentschlossen. Eine Spritztour mit Freundinnen wäre bestimmt mal ganz nett, aber andererseits – mit Lauren? Und wer weiß, was ich stattdessen nach der Schule machen könnte … Aber das waren definitiv die falschen Überlegungen. Klar freute ich mich über die Sonne. Aber sie war keineswegs allein verantwortlich für meine euphorische Stimmung. Nicht einmal annähernd.
Ich sagte Jessica, dass ich vielleicht mitkäme, aber erst noch mit Charlie sprechen müsste.
Auf dem Weg zu Spanisch redete sie über nichts anderes als den Ball, und als die Stunde endlich, fünf Minuten über der Zeit, vorbei war, machte sie auf dem Weg zur Cafeteria nahtlos da weiter, wo sie aufgehört hatte. Allerdings bekam ich kaum etwas von dem mit, was sie sagte, so gespannt war ich. Ich brannte nicht nur darauf, Edward zu sehen, auch seine Geschwister wollte ich mit meinem neuen, quälenden Verdacht im Hinterkopf betrachten. Als ich die Cafeteria betrat, lief mir zum ersten Mal ein echter Angstschauer den Rücken hinab – und weiter hinein in die Magengrube. Würden sie wissen, was ich dachte? Doch gleich darauf durchzuckte mich ein anderer Gedanke: Ob Edward wohl wieder an einem separaten Tisch auf mich wartete?
Wie immer schaute ich als Erstes zum Tisch der Cullens. Panisches Kribbeln erfüllte meinen Magen, als ich sah, dass er ganz leer war. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, in der Hoffnung, ihn vielleicht allein irgendwo zu entdecken. Der Saal war fast voll, schließlich waren wir wegen Spanisch spät dran, doch nirgendwo war eine Spur von Edward oder jemandem aus seiner Familie zu sehen. Lähmende Trostlosigkeit ergriff mich.
Ich trottete hinter Jessica her, ohne mir weiter die Mühe zu machen, so zu tun, als hörte ich ihr zu.
Wir waren die Letzten an unserem Tisch. Neben Mike war ein Platz frei, doch ich beachtete ihn nicht und setzte mich zu Angela. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mike, ganz der Gentleman, für Jessica den Stuhl hervorzog und wie ein Leuchten über ihr Gesicht ging.
Angela stellte mir ein paar Fragen zum Macbeth-Aufsatz, die ich so normal wie möglich zu beantworten versuchte, während ich zugleich immer tiefer in meiner Trübsal versank. Sie lud mich ebenfalls ein, mit nach Port Angeles zu fahren, und dieses Mal sagte ich zu. Alles, was mich ablenkte, war mir willkommen.
Erst als ich den Biologieraum betrat, Edwards leeren Platz sah und von einer weiteren Welle der Enttäuschung überschwemmt wurde, wusste ich, dass ich noch immer einen Funken Hoffnung bewahrt hatte.
Der Rest des Schultages verging mit einem Schneckentempo, das zu meiner Niedergeschlagenheit passte. In Sport hörten wir einen Vortrag über die Spielregeln von Badminton, die neueste Foltermethode, die sie für mich vorgesehen hatten. Aber wenigstens konnte ich sitzen und zuhören, anstatt auf dem Spielfeld herumzustolpern. Außerdem kam Coach Clapp nicht bis zum Ende, was meine Gnadenfrist um einen Tag verlängerte. Sie würden mich also erst übermorgen mit einem Schläger bewaffnen und auf den Rest der Klasse loslassen – wenn das nicht beruhigend war!
Ich war heilfroh, das Schulgelände zu verlassen; so konnte ich mich ungestört meiner schlechten Laune hingeben, bevor ich mich mit Jessica und den anderen beiden auf den Weg machte. Doch unmittelbar nachdem ich zu Hause ankam, klingelte das Telefon und sie sagte ab. Ich versuchte, mich mit ihr darüber zu freuen, dass Mike sie zum Abendessen eingeladen hatte – und ich war ja tatsächlich froh, dass er es offensichtlich endlich kapiert hatte. Aber so richtig überzeugend klang meine Begeisterung nicht, zumindest nicht in meinen Ohren. Jessica verlegte unseren Einkaufsbummel auf den nächsten Tag.
Mir blieb also wenig, um mich abzulenken. Der Fisch fürs Abendessen schwamm schon in seiner Marinade, Salat und Brot waren noch vom Vortag übrig, und mehr gab es in der Küche nicht zu tun. Eine halbe Stunde brauchte ich für meine Hausaufgaben, dann war ich damit ebenfalls fertig. Ich ging ins Internet, öffnete mein Postfach und las die gesammelten Mails meiner Mutter, die immer schroffer wurden, je länger sie nichts von mir gehört hatte. Ich seufzte und tippte eine kurze Antwort.
Mom,
tut mir leid, ich war nicht da. Bin mit ein paar Freunden zum Strand gefahren. Und dann musste ich einen Aufsatz schreiben.
Meine Ausreden waren ziemlich erbärmlich, ich ließ es also besser sein.
Draußen scheint die Sonne (ich kann’s auch kaum fassen), ich geh mal besser raus und versuche, so viel wie möglich davon aufzusaugen. Ich liebe Dich.
Bella
Ich entschloss mich, ein bisschen Zeit mit außerschulischer Lektüre zu überbrücken. Ein paar Bücher hatte ich nach Forks mitgebracht, und das zerlesenste von ihnen war ein Band mit Jane-Austen-Romanen. Ich kramte ihn vor, dann holte ich mir eine zerschlissene alte Decke aus dem Wäscheschrank oben auf dem Treppenabsatz und ging auf die Wiese hinter dem Haus.
Ich suchte mir eine Stelle, die von den Schatten der Bäume nicht erreicht werden konnte, faltete die Decke einmal in der Mitte und breitete sie auf dem dichten Rasen aus, der immer ein wenig nass sein würde, egal, wie lange die Sonne schien. Dann legte ich mich auf den Bauch, kreuzte meine Knöchel in der Luft und blätterte die verschiedenen Romane durch, um herauszufinden, welcher von ihnen meine Gedanken am gründlichsten ablenken würde. Am liebsten mochte ich Stolz und Vorurteil und Sinn und Sinnlichkeit, und da ich Stolz und Vorurteil vor nicht allzu langer Zeit gelesen hatte, fing ich mit Sinn und Sinnlichkeit an, bis mir zu Beginn des dritten Kapitels wieder einfiel, dass der Held der Geschichte ein Mann namens Edward war. Wütend machte ich mit Mansfield Park weiter, doch da hieß der Held Edmund, was eindeutig zu ähnlich war. Gab es denn keine anderen Namen im späten 18. Jahrhundert? Missmutig klappte ich das Buch zu und drehte mich auf den Rücken. Ich schob meine Ärmel so hoch, wie es ging, und schloss die Augen. Du wirst jetzt an nichts anderes als an die Wärme auf deiner Haut denken, verordnete ich mir. Eine schwache Brise blies mir dann und wann ein paar Strähnchen ins Gesicht, die mich kitzelten. Ich schob meine Haare so nach oben, dass sie sich über meinem Kopf fächerförmig auf der Decke ausbreiteten. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Wärme, die sich auf meine Augenlider legte, auf meine Wangenknochen, meine Nase, meine Unterarme, meinen Hals, die durch meine leichte Bluse drang …
Das Nächste, was ich mitbekam, war das Geräusch von Charlies Streifenwagen auf dem Pflaster der Auffahrt. Überrascht setzte ich mich auf und sah, dass die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war. Ich war eingenickt. Schlaftrunken schaute ich mich um und hatte mit einem Mal das Gefühl, nicht allein zu sein.
»Charlie?«, fragte ich. Doch ich hörte, wie seine Autotür auf der anderen Seite des Hauses ins Schloss fiel.
Ganz durcheinander sprang ich auf, raffte die feucht gewordene Decke und mein Buch zusammen und eilte ins Haus, um etwas Öl zu erhitzen. Ich war spät dran mit dem Abendessen. Charlie war gerade dabei, seinen Pistolengurt aufzuhängen und seine Stiefel auszuziehen.