Wir gingen weiter zu den Schuhen und Accessoires. Sie probierten Sachen an, ich beschränkte mich aufs Zuschauen und Kommentieren. Ich war nicht in der Stimmung, etwas zu kaufen, obwohl ich auch neue Schuhe brauchen konnte. Die Verärgerung über Tyler hatte meine Hochstimmung zerstört. Die Trübsal hatte mich wieder.
»Angela?«, fragte ich zögerlich. Sie probierte gerade ein Paar rosafarbene High Heels mit Riemchen an; sie war froh, einen Begleiter zu haben, bei dem sie überhaupt hochhackige Schuhe tragen konnte. Jessica war zum Schmuckstand hinübergegangen; wir waren allein.
»Ja?« Sie winkelte ihr Bein ab und drehte ihren Fuß, um den Schuh besser betrachten zu können.
Doch dann verließ mich der Mut. »Die sehen gut aus«, sagte ich.
»Ich glaube, ich nehm sie«, sagte sie abwägend. »Die werden zwar nie zu irgendwas anderem passen als zu dem einen Kleid, aber was soll’s.«
»Genau – und außerdem sind sie runtergesetzt«, ermunterte ich sie. Sie lächelte und verschloss einen anderen Karton, der eher zweckmäßig wirkende, mattweiße Schuhe enthielt.
Ich nahm einen weiteren Anlauf. »Ähm, Angela …« Sie blickte neugierig auf.
»Ist es eigentlich normal, dass die … Cullens« – ich schaute beim Sprechen die Schuhe an – »öfter mal nicht zur Schule kommen?« Ich gab mir Mühe, so unverkrampft wie möglich zu klingen, und versagte auf ganzer Linie.
»Auf jeden Fall. Wenn das Wetter gut ist, machen sie ständig Wandertouren, selbst der Doktor. Sie sind ziemliche Freiluftfanatiker.« Sie sprach mit gesenkter Stimme und betrachtete dabei ebenfalls ihre Schuhe. Und sie stellte mir nicht eine einzige Frage, ganz zu schweigen von den Hunderten, mit denen Jessica mich an ihrer Stelle bestürmt hätte. Ich fing an, Angela wirklich zu mögen.
»Verstehe.« Dann kam Jessica zurück, um uns den Schmuck zu präsentieren, den sie passend zu ihren silbernen Schuhen ausgesucht hatte, und ich ließ das Thema fallen.
Wir hatten geplant, zum Essen in ein kleines italienisches Restaurant an der Uferpromenade zu gehen, doch der Einkauf hatte weniger Zeit als erwartet in Anspruch genommen. Jess und Angela wollten ihre neuen Sachen zum Auto bringen und dann hoch zur Bucht laufen. Ich verabredete mit ihnen, dass wir uns eine Stunde später bei dem Italiener treffen würden – ich wollte noch in einen Buchladen gehen. Sie erklärten sich beide bereit, mir Gesellschaft zu leisten, doch ich redete ihnen zu, sich eine nette Stunde am Wasser zu machen – sie hatten ja keine Ahnung, wie versunken ich sein konnte, wenn ich von Büchern umgeben war; mir war es sowieso lieber, dabei allein zu sein. Sie gingen fröhlich plaudernd zum Auto, und ich machte mich in die Richtung auf, die Jessica mir gewiesen hatte.
Der Buchladen war leicht zu finden, aber er war nicht das, wonach ich suchte. Das Schaufenster war voller Kristalle, Traumfänger und Bücher über spirituelle Heilung. Durch das Glas sah ich eine vielleicht fünfzigjährige Frau mit langen grauen Haaren, die ihr offen über den Rücken herabfielen, und einem Kleid direkt aus den Sechzigern. Sie stand hinter ihrem Ladentisch und lächelte einladend. Ich ging gar nicht erst hinein – auf das Gespräch konnte ich getrost verzichten; es musste ja irgendwo noch einen normalen Buchladen geben.
Ich schlenderte durch die Straßen, die sich mit Feierabendverkehr füllten, und hoffte, dass ich in Richtung Zentrum unterwegs war. Ich achtete kaum darauf, wo ich mich befand; ich hatte genug damit zu tun, gegen meine Verzweiflung anzukämpfen und möglichst nicht an ihn zu denken oder daran, was Angela gesagt hatte. Doch am schwersten war es, meine Hoffnungen für Samstag herunterzuschrauben – ich hatte schreckliche Angst vor einer Enttäuschung. Und dann blickte ich auf und sah einen silberfarbenen Volvo am Straßenrand stehen, und alles kam mit Gewalt zurück. Blöder, unzuverlässiger Vampir, dachte ich.
Ich stapfte weiter in südlicher Richtung, auf ein paar vielversprechende Glasfassaden zu. Doch als ich dort ankam, stand ich vor einer Reparaturwerkstatt und einem leerstehenden Gebäude. Es war immer noch zu früh, um das Restaurant zu suchen, und ich musste mich auf jeden Fall wieder fangen, bevor ich Jess und Angela traf. Ich fuhr mir ein paarmal mit den Fingern durch die Haare und atmete tief durch, dann bog ich um die Ecke.
An der nächsten Straße, die ich überquerte, wurde mir klar, dass ich in die falsche Richtung ging. Die wenigen Fußgänger, die mir noch begegneten, liefen nach Norden, und die meisten Gebäude hier sahen aus wie Lagerhäuser. Ich wollte nicht denselben Weg zurücklaufen, deshalb entschloss ich mich, an der nächsten Ecke nach Osten abzubiegen und dann ein paar Straßen weiter einen Bogen zurück in Richtung Strandpromenade zu schlagen. Vielleicht hatte ich ja auf einer anderen Straße mehr Glück.
Vier Männer kamen um die Ecke, auf die ich zulief. Für Büroarbeiter auf dem Heimweg waren sie zu zwanglos gekleidet, für Touristen dagegen zu schmuddelig. Als sie näher kamen, sah ich, dass sie nicht viel älter waren als ich. Sie blödelten herum, lachten laut und mit rauen Stimmen und boxten sich gegenseitig auf die Oberarme. Ich wich so weit wie möglich an den Rand des Bürgersteiges aus, um ihnen Platz zu lassen, ging schneller und blickte an ihnen vorbei auf die Kreuzung.
»Hey, wie geht’s?«, rief einer von ihnen im Vorbeigehen. Er konnte nur mich meinen
– sonst war niemand in der Nähe. Automatisch blickte ich auf. Zwei von ihnen waren stehen geblieben, die beiden anderen wurden langsamer. Mir am nächsten stand ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Mann Anfang zwanzig – dem Anschein nach war er es, der mich angesprochen hatte. Er trug ein offenes Flanellhemd über einem schmutzigen T-Shirt, dazu abgeschnittene Jeans und Sandalen. Er machte eine Bewegung auf mich zu.
»Hallo«, murmelte ich reflexartig. Dann schaute ich schnell weg und ging eilig auf die Ecke zu. Ich hörte, wie sie hinter mir in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Hey, warte doch mal!«, rief einer hinter mir her, doch ich bog mit gesenktem Kopf – und einem erleichterten Seufzen – um die Ecke. Aus der Entfernung hörte ich noch immer ihr Lachen.
Ich befand mich auf einem Gehweg, der an der Rückseite von düster aussehenden Lagerhäusern vorbeiführte; sie hatten große Schiebetüren zum Entladen von Lastwagen, die für die Nacht mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Auf der anderen Straßenseite gab es gar keinen Gehweg, nur einen Stacheldrahtzaun, der irgendein Lager für Maschinenteile absperrte. Ich war weit entfernt von dem Port Angeles, das für Touristen wie mich bestimmt war. Es wurde langsam dunkel – die Wolken waren zurückgekehrt, türmten sich am westlichen Horizont auf und sorgten für einen verfrühten Sonnenuntergang. Der östliche Himmel war noch immer klar, färbte sich aber grau und wurde von rosa-und orangefarbenen Streifen durchzogen. Mich fröstelte plötzlich, und ich schlang meine Arme fest um meine Brust; meine Jacke hatte ich im Auto gelassen. Ein Van fuhr an mir vorbei, dann war die Straße leer.
Schlagartig verdüsterte es sich noch mehr, und als ich mich verärgert nach der aufdringlichen Wolke umschaute, durchfuhr mich ein Schreck: In sechs oder sieben Metern Entfernung folgten mir lautlos zwei Männer.
Sie gehörten zu der Gruppe, der ich vor der Ecke begegnet war, doch der Dunkelhaarige, der mich angesprochen hatte, war nicht dabei. Ich drehte mich weg und lief schneller. Wieder durchfuhr mich ein Frösteln, doch dieses Mal hatte es nichts mit dem Wetter zu tun. Meine Handtasche trug ich um den Körper geschlungen, wie man es machen soll, damit sie einem niemand wegreißen kann. Ich wusste genau, wo sich mein Pfefferspray befand – in meiner Reisetasche unter dem Bett, wo es schon seit meiner Ankunft in Forks lag. Ich hatte nicht viel Geld dabei, nur einen Zwanziger und ein paar Eindollarscheine, und ich dachte kurz daran, »versehentlich« meine Tasche fallen zu lassen und weiterzugehen. Doch eine leise und ängstliche innere Stimme mahnte mich, dass diese Männer vielleicht schlimmere Absichten hatten als Raub.