»Wenn jemand dich fragt, ob du dich traust, Erde zu essen, dann könntest du das doch auch, oder?«, fragte er herablassend.
Ich rümpfte meine Nase. »Hab ich mal … es war eine Wette«, gab ich zu. »Es war gar nicht so schlimm.«
Er lachte. »Ich würde sagen, das überrascht mich nicht.« Irgendetwas hinter mir erregte seine Aufmerksamkeit.
»Jessica analysiert jede meiner Bewegungen – sie wird das alles später haarklein vor dir ausbreiten.« Er schob den Rest der Pizza zu mir herüber. Als er Jessica erwähnte, trat der verärgerte Ausdruck von eben wieder in sein Gesicht.
Ich legte den Apfel beiseite und biss von der Pizza ab, ohne ihn anzuschauen – ich wusste, er würde gleich loslegen.
»Die Kellnerin war also hübsch, ja?«, fragte er beiläufig.
»Hast du das wirklich nicht bemerkt?«
»Nein. Ich hab sie nicht beachtet. Mir ging eine Menge durch den Kopf.«
»Armes Ding.« Jetzt konnte ich es mir ja erlauben, gönnerhaft zu sein.
Er ließ sich nicht ablenken. »Eine Sache, die du zu Jessica gesagt hast … na ja, die wurmt mich.« Er hatte den Kopf gesenkt und schaute sorgenvoll unter seinen Wimpern hervor nach oben; seine Stimme klang rau.
»Das wundert mich gar nicht, dass du was gehört hast, was dir nicht gefallen hat. Du weißt ja, wie es dem Lauscher an der Wand ergeht«, erinnerte ich ihn.
»Ich hab dir gesagt, dass ich zuhören werde.«
»Und ich hab dir gesagt, dass du nicht alles wissen willst, was ich denke.«
»Das hast du gesagt«, pflichtete er mir bei, doch seine Stimme behielt ihren unwirschen Klang. »Aber das stimmt nicht ganz. Ich möchte sehr wohl wissen, was du denkst – alles. Ich wünschte nur … dass du über einige Sachen anders denken würdest.«
Ich schaute ihn finster an. »Das ist ein ziemlicher Unterschied.«
»Aber darum geht’s im Moment sowieso nicht.«
»Und worum geht es?«
Wir hatten uns über den Tisch hinweg einander zugeneigt. Seine großen weißen Hände waren unter seinem Kinn verschränkt, ich saß nach vorne gebeugt da und umfasste mit der rechten Hand meinen Nacken. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass wir uns in der gutgefüllten Cafeteria befanden und wahrscheinlich gerade etliche neugierige Augenpaare auf uns gerichtet waren. Es wäre ein Leichtes gewesen, mich in unserer spannungsgeladenen kleinen Zweisamkeit zu verlieren und die Außenwelt zu vergessen.
»Glaubst du wirklich, dass du mehr für mich empfindest als ich für dich?«, fragte er leise, wobei er sich weiter zu mir rüberlehnte und mich aus seinen tiefgoldenen Augen durchdringend anschaute.
Ich versuchte mich zu erinnern, wie man ausatmet – es fiel mir erst wieder ein, als ich meinen Blick abgewandt hatte.
»Du tust es schon wieder«, murmelte ich.
Überrascht weiteten sich seine Augen. »Was denn?«
»Du bringst mich aus der Fassung«, gestand ich ein und versuchte ihm wieder in die Augen zu schauen, ohne meine Konzentration einzubüßen.
»Oh.« Er runzelte die Stirn.
»Du kannst nichts dafür«, seufzte ich.
»Beantwortest du meine Frage?«
Ich schlug meine Augen nieder. »Ja.«
»Ja, du beantwortest die Frage, oder ja, du glaubst das wirklich?« Er klang erneut verärgert.
»Ja, ich glaube das wirklich.« Ich vertiefte mich in das Holzmuster, das auf das Laminat der Tischplatte gedruckt war. Das Schweigen hielt an. Dieses Mal wollte ich nicht diejenige sein, die es brach, und so widerstand ich der übergroßen Versuchung, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen.
Als er schließlich sprach, war seine Stimme samtweich. »Du irrst dich.«
Ich blickte auf; seine Augen waren sanft.
»Das weißt du doch gar nicht«, widersprach ich flüsternd. Zweifelnd schüttelte ich meinen Kopf, auch wenn seine Worte mein Herz lauter pochen ließen und ich ihnen so gerne Glauben geschenkt hätte.
»Wie kommst du denn darauf?« Er schaute mich so eindringlich aus seinen glänzenden Topasaugen an, als würde er – vergeblich – versuchen, die Wahrheit direkt aus meinen Gedanken zu schöpfen.
Ich hielt seinem Blick stand und bemühte mich, einen klaren Gedanken zu fassen und eine Erklärung zu formulieren. Während ich um Worte rang, sah ich, dass er ungeduldig wurde; je länger ich nichts sagte, desto finsterer wurde sein Blick. Ich löste meine Hand vom Nacken und hob den Zeigefinger.
»Lass mich bitte nachdenken«, verlangte ich. Seine Miene hellte sich auf, jetzt, da er wusste, dass ich vorhatte zu antworten. Ich ließ meine Hand auf den Tisch sinken und presste sie gegen die andere, so dass meine Ballen aneinanderlagen. Ich betrachtete meine Hände, verschränkte meine Finger, löste sie wieder voneinander – und schließlich sprach ich auch.
»Also, abgesehen von den offenkundigen Gründen ist es manchmal …« Ich zögerte. »Ich bin mir nicht sicher – ich kann keine Gedanken lesen. Aber manchmal ist es, als würdest du versuchen, dich von mir zu verabschieden, obwohl du scheinbar etwas anderes sagst.« Besser konnte ich das quälende Gefühl nicht beschreiben, das seine Worte bisweilen in mir auslösten.
»Gut erkannt«, flüsterte er. Und mit seiner Bestätigung meiner Ängste war es sofort wieder da, dieses Gefühl. »Aber genau das ist der Grund, warum du dich irrst«, begann er zu erklären, doch dann stockte er und kniff seine Augen zusammen. »Aber von welchen ›offenkundigen Gründen‹ redest du eigentlich?«
»Guck mich doch an«, sagte ich – unnötigerweise, denn das tat er bereits. »Ich bin absolut durchschnittlich. Na ja, abgesehen von den negativen Besonderheiten wie dem Talent, ständig in Todesgefahr zu geraten, und einer Ungeschicklichkeit, die an körperliche Behinderung grenzt. Und dann guck dich an.« Ich machte mit meiner Hand eine Bewegung, die ihn und seine ganze verwirrende Perfektion einschloss.
Seine Brauen zogen sich verärgert zusammen, dann glättete sich seine Stirn und in seine Augen trat ein wissender Blick. »Du kannst dich selber nicht sonderlich gut einschätzen, weißt du das? Ich gebe zu, dass du vollkommen Recht hast, was die negativen Besonderheiten angeht.« Er lachte verschmitzt vor sich hin. »Doch im Gegensatz zu mir hast du nicht mitbekommen, was jedem männlichen Wesen an dieser Schule durch den Kopf ging, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist.«
Ich blinzelte erstaunt. »Kann ich mir nicht vorstellen …«, murmelte ich vor mich hin.
»Glaub mir, nur dieses eine Mal – du bist das exakte Gegenteil von durchschnittlich.«
Meine Verlegenheit war viel größer als meine Freude über den Blick, den er mir in diesem Moment schenkte. Ich beeilte mich, ihn an mein eigentliches Argument zu erinnern.
»Ich bin es aber nicht, die sich verabschiedet«, wandte ich ein.
»Verstehst du nicht? Genau das ist es doch, was mir Recht gibt. Du bedeutest mir mehr, denn wenn ich so etwas tun kann …« Er schüttelte seinen Kopf, als würde er mit dem Gedanken ringen. »Wenn es das Richtige ist, mich zurückzuziehen, und ich mache das, um dich nicht zu verletzen – dann heißt das, dass mir deine Sicherheit wichtiger ist als meine Wünsche.«
Ich funkelte ihn an. »Und du meinst nicht, ich würde dasselbe tun?«
»Du würdest nie in eine solche Lage kommen.«
Jäh wechselte seine unberechenbare Stimmung ein weiteres Mal; ein bezwingendes Lächeln verwandelte seine Gesichtszüge. »Andererseits – allmählich kommt es mir so vor, als erforderte deine Sicherheit meine Anwesenheit rund um die Uhr.«
»Heute hat noch niemand probiert, mich um die Ecke zu bringen«, erinnerte ich ihn, dankbar für das leichter verdauliche Thema. Ich wollte nicht, dass er noch länger vom Abschied redete. Wenn es sein musste, dachte ich, könnte ich mich wahrscheinlich auch absichtlich in Gefahr begeben, um seine Nähe zu erzwingen … Ich begrub die Idee, bevor seine schnellen Augen sie von meinem Gesicht ablesen konnten – sie würde mich definitiv in Schwierigkeiten bringen.
»Aber dennoch«, ergänzte er.
»Aber dennoch«, stimmte ich zu; normalerweise hätte ich es abgestritten, aber im Moment war es mir nur recht, wenn er mit Katastrophen rechnete.