»Bist du auch wie ein Bär?«, fragte ich leise.
»Mehr wie eine Raubkatze, das sagen zumindest die anderen«, antwortete er gutgelaunt. »Vielleicht sind unsere kulinarischen Vorlieben ja bezeichnend für unser Wesen.«
Ich probierte zu lächeln. »Vielleicht«, wiederholte ich. Doch mein Kopf war mit widersprüchlichen Bildern gefüllt, die sich partout nicht miteinander vereinbaren ließen. »Werde ich das auch einmal zu sehen bekommen?«
»Auf gar keinen Fall!« Sein Gesicht wurde noch bleicher, als es ohnehin schon war, und seine Augen funkelten wütend. Überrascht und – obwohl ich es ihm gegenüber nie zugeben würde – verängstigt von seiner Reaktion, wich ich zurück. Er lehnte sich ebenfalls nach hinten und verschränkte die Arme.
»Zu beängstigend für mich?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte.
»Wenn es das wäre, würde ich dich noch heute Nacht mitnehmen«, sagte er schneidend. »Es gibt nichts, was du dringender nötig hast als eine gesunde Portion Angst.«
»Warum dann?«, drängte ich weiter und ignorierte seine verärgerte Miene, so gut es ging.
Eine Weile saß er nur da und starrte mich wütend an.
»Später«, sagte er schließlich und kam in einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf die Beine. »Wir müssen los.«
Ich blickte mich um und sah zu meiner Verblüffung, dass es stimmte – die Cafeteria war fast leer. Wenn ich mit ihm zusammen war, verschwammen Ort und Zeit, bis ich beides vergessen hatte. Ich sprang auf und nahm meine Tasche von der Lehne.
»Okay, dann später«, willigte ich ein. Ich würde es nicht vergessen.
ELEKTRISCHE SPANNUNG
Als wir gemeinsam den Biologieraum betraten und zu unserem Tisch gingen, waren sämtliche Blicke auf uns gerichtet. Edward stellte jetzt nicht mehr seinen Stuhl schräg, um so weit wie möglich von mir entfernt zu sitzen. Stattdessen rückte er so nahe heran, dass unsere Arme sich fast berührten.
Dann betrat Mr Banner rückwärts den Raum – der Mann hatte ein exzellentes Timing
– und zog ein großes Metallgestell auf Rädern herein, auf dem ein wuchtiger alter Fernseher nebst Videorecorder stand. Ein Film! Der Stimmungsumschwung im Raum war beinahe mit Händen zu greifen.
Mr Banner schob die Kassette in das widerspenstige Gerät und ging zur Wand, um das Licht auszuschalten.
Der Raum verdunkelte sich, und plötzlich wurde mir in gesteigertem Maße bewusst, dass Edward nur wenige Millimeter von mir entfernt saß. Benommen registrierte ich die unerwartete elektrische Spannung, die sich in meinem Körper ausbreitete – es war also möglich, seine Gegenwart noch intensiver zu spüren, als ich es ohnehin schon tat. Der wahnsinnige Impuls, meine Hand zu heben und ihn zu berühren, nur ein einziges Mal in der Dunkelheit über sein perfektes Gesicht zu streichen, war nahezu überwältigend. Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust, ballte die Hände zu Fäusten – und verlor fast den Verstand.
Der Vorspann begann und hellte den Raum kaum wahrnehmbar auf. Meine Augen wandten sich ihm wie von selbst zu. Ich lächelte verschämt, als ich sah, dass seine Haltung meiner identisch war: Fäuste unter die Arme geklemmt, Blick zu mir. Er erwiderte mein Grinsen und schaffte es dabei trotz der Dunkelheit, seine Augen zum Glühen zu bringen. Ich schaute weg, um nicht zu hyperventilieren. Es war absolut lächerlich, aber mir wurde tatsächlich schwindlig.
Die Stunde schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Ich konnte mich nicht auf den Film konzentrieren, wusste nicht einmal, wovon er handelte. Ich unternahm ein paar Versuche, mich zu entspannen, doch ohne Erfolg – der elektrische Impuls, der von seinem Körper auszugehen schien, setzte nicht einen Moment lang aus. Von Zeit zu Zeit gestattete ich mir einen kurzen Blick auf ihn – er schien sich ebenfalls nicht zu entspannen. Auch die übermächtige Sehnsucht, ihn zu berühren, nahm nicht ab, und so quetschte ich meine Fäuste an die Rippen, bis mir die Finger schmerzten.
Ich seufzte erleichtert, als Mr Banner am Ende der Stunde das Licht anschaltete, streckte meine Arme aus und bewegte meine steifen Finger. Neben mir lachte Edward leise in sich hinein.
»Ich würde sagen, das war interessant«, murmelte er. Seine Stimme war düster, seine Augen wachsam.
»Mmmh« war alles, was ich herausbekam.
»Sollen wir?«, fragte er und erhob sich mit einer fließenden Bewegung vom Stuhl.
Als mir einfiel, was ich als Nächstes hatte, stöhnte ich fast auf – Sport. Ich war äußerst vorsichtig beim Aufstehen, für den Fall, dass die merkwürdige neue Intensität zwischen uns meinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt hatte.
Schweigend begleitete er mich zur Turnhalle und blieb am Eingang stehen. Ich wandte mich ihm zu, um mich zu verabschieden, und erschrak – sein Gesicht war so bekümmert, fast schon gequält, und zugleich so atemberaubend schön, dass dieses unbändige Verlangen, ihn zu berühren, erneut aufflammte. Mir blieb mein »bis später« im Hals stecken.
Er hob seine Hand, zögerte – in seinen Augen tobte der Konflikt – und strich mir dann flüchtig mit den Fingerspitzen über die Wange. Seine Haut war so eisig wie immer, doch die Spur seiner Finger brannte auf meinem Gesicht.
Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging mit schnellen Schritten davon.
Benommen und auf wackligen Beinen betrat ich die Turnhalle und lenkte meine Schritte mechanisch zur Umkleidekabine, wo ich wie in Trance meine Kleidung ablegte und meine Sportsachen anzog. Ich nahm kaum wahr, dass sich außer mir noch andere Leute im Raum befanden. Die Wirklichkeit holte mich erst wieder ein, als mir jemand einen Badmintonschläger reichte. Er war zwar nicht schwer, fühlte sich aber in meinen Händen alles andere als sicher an. Ich sah, wie ein paar aus der Klasse mir verstohlene Blicke zuwarfen. Coach Clapp forderte uns auf, Zweierteams zu bilden.
Glücklicherweise war Mikes Ritterlichkeit noch in Ansätzen vorhanden; er gesellte sich zu mir.
»Wie wär’s – wir beide?«
»Danke, Mike, das ist nett. Du musst das aber nicht machen.« Entschuldigend verzog ich das Gesicht.
»Keine Sorge, ich achte auf Sicherheitsabstand.« Er grinste. Manchmal war es so einfach, Mike zu mögen.
Es ging trotzdem nicht alles glatt. Mir gelang das Kunststück, mit einem Schlag sowohl meinen Kopf zu treffen als auch Mikes Schulter zu streifen. Danach zog ich mich für den Rest der Stunde in den hinteren Teil des Spielfeldes zurück und verwahrte den Schläger sicher hinter meinem Rücken. Mike war ziemlich gut, auch mit mir als Hemmschuh; ganz auf sich allein gestellt, gewann er drei von vier Spielen und klatschte mich unverdientermaßen ab, als Coach Clapp endlich die Stunde abpfiff.
»Und?«, fragte er auf dem Weg zu den Kabinen.
»Was – und?«
»Du und Cullen, oder wie?« Es klang herausfordernd. Sofort verschwand das Gefühl der Zuneigung.
»Das geht dich nichts an, Mike«, sagte ich drohend und wünschte Jessica die Pest an den Hals.
»Ich find das nicht gut«, brummelte er trotzdem.
»Das musst du auch nicht«, fauchte ich zurück.
Doch er ließ sich nicht bremsen. »Er schaut dich an, ich weiß nicht – als wärst du was zu essen«, sagte er.
Ich würgte einen hysterischen Anfall ab, aber ein kleines Kichern ließ sich trotz aller Anstrengung nicht unterdrücken. Er schaute mich wütend an. Ich winkte und verschwand in meinem Umkleideraum.
In Windeseile zog ich mich um. Etwas Mächtigeres als Schmetterlinge trommelte mir rücksichtslos gegen die Magenwände; die Auseinandersetzung mit Mike war bereits jetzt nicht mehr als eine vage Erinnerung. Ich fragte mich, ob Edward draußen auf mich warten oder ob wir uns am Auto treffen würden. Was, wenn seine Geschwister da waren? Mich überkam eine Welle echter Panik. Wussten sie, dass ich es wusste? Und wenn ja, erwarteten sie von mir, dass ich wusste, dass sie es wussten, oder nicht?
Als ich aus der Turnhalle trat, war ich kurz davor, nach Hause zu laufen, ohne auch nur einen Blick in Richtung Parkplatz zu werfen. Aber meine Befürchtungen waren überflüssig – Edward erwartete mich schon, lässig gegen die Wand gelehnt; sein atemberaubendes Gesicht war jetzt unbeschwert. Als ich auf ihn zuging, erfasste mich ein merkwürdiges Gefühl der Befreiung.