Es war die längste Rede, die ich je aus Charlies Mund gehört hatte. Offensichtlich ärgerte er sich sehr über das Gerede der Leute.
Ich ruderte zurück. »Ich hatte ja auch das Gefühl, dass sie ganz nett sind. Mir ist nur aufgefallen, dass sie unter sich bleiben. Und dass sie alle ziemlich gut aussehen«, fügte ich hinzu, um noch was Positives zu sagen.
»Da solltest du mal den Doktor sehen«, sagte Charlie und lachte. »Nur gut, dass er glücklich verheiratet ist. Etliche der Schwestern im Krankenhaus haben Schwierigkeiten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, wenn er in der Nähe ist.«
Wir beendeten das Essen so schweigend, wie wir es begonnen hatten. Hinterher räumte er den Tisch ab und ich machte mich an den Abwasch – von Hand, Charlie hatte keinen Geschirrspüler. Dann zog er sich wieder vor den Fernseher zurück,während ich lustlos nach oben ging, um meine Mathehausaufgaben zu erledigen.
Der Ablauf hatte das Zeug zum abendlichen Ritual.
In dieser Nacht war es endlich still. Ich schlief schnell ein, vollkommen erschöpft.
Der Rest der Woche verlief ereignislos. Mein Stundenplan wurde zur Routine, und spätestens am Freitag kannte ich fast alle Schüler vom Sehen, wenn auch noch nicht beim Namen. Meine Mannschaftskameraden beim Volleyball gewöhnten sich daran, mir nicht den Ball zuzuspielen und sich vor mich zu stellen, sobald jemand vom gegnerischen Team meine Schwäche ausnutzen wollte. Und ich hatte nicht das Geringste dagegen, aus der Schusslinie zu treten.
Edward Cullen kam die ganze Woche nicht wieder zur Schule.
Jeden Tag wartete ich voller Anspannung, bis ich die vier Cullens ohne ihn die Cafeteria betreten sah. Dann erst konnte ich mich entspannen und mit den anderen unterhalten. Meistens drehte es sich um einen Ausflug zum La Push Ocean Park in zwei Wochen, den Mike organisierte. Ich war eingeladen und hatte zugesagt, wenn auch vor allem aus Höflichkeit. Die Strände, nach denen ich mich sehnte, waren heiß und trocken.
Am Ende der Woche fiel es mir leicht, den Biologieraum zu betreten – ich machte mir keine Sorgen mehr, dass Edward auftauchen könnte. Für mich sah es so aus, als hätte er die Schule verlassen. Ich versuchte nicht an ihn zu denken, konnte aber das quälende Gefühl, dass ich der Grund für seine anhaltende Abwesenheit war, nicht völlig unterdrücken, so lächerlich es mir auch erschien.
Mein erstes Wochenende in Forks verlief ohne Zwischenfall. Charlie, daran gewöhnt, wenig Zeit in einem Haus zu verbringen, das normalerweise leer war, arbeitete auch an den freien Tagen. Ich machte sauber, erledigte meine Hausaufgaben und schrieb noch ein paar betont fröhliche Mails an Mom. Am Samstag fuhr ich zur Bibliothek, aber sie war so schlecht bestückt, dass ich mir nicht einmal eine Mitgliedskarte geben ließ; ich nahm mir vor, für die nächste Zeit einen Besuch in Olympia oder Seattle einzuplanen und mir dort einen guten Buchladen zu suchen. Wie viel Sprit der Transporter wohl verbrauchte? Lieber nicht darüber nachdenken, dachte ich mit Schrecken.
Der Regen blieb das Wochenende über schwach und leise genug, dass ich gut schlafen konnte.
Als ich am Montagmorgen auf dem Schulparkplatz ankam, wurde ich von allen Seiten begrüßt; ich kannte noch nicht alle Namen, winkte aber zurück und lächelte. Es war kälter als an den Tagen davor, aber zum Glück regnete es nicht. In Englisch setzte sich Mike auf seinen gewohnten Platz neben mir. Wir schrieben einen unangekündigten Test über Sturmhöhe, aber der war zum Glück sehr einfach. Alles in allem fühlte ich mich sehr viel wohler, als ich erwartet hatte. Wohler, als ich erwartet hatte, mich je hier zu fühlen.
Als wir nach Englisch vor die Tür traten, wirbelten lauter weiße Fusseln durch die Luft. Schüler schrien aufgeregt durcheinander. Der Wind schnitt mir in Nase und Wangen.
»Wow«, sagte Mike. »Es schneit.«
Ich betrachtete die kleinen wolligen Bausche, die sich am Boden aufschichteten und mir wild ums Gesicht wehten.
»Uh.« Schnee. Das war’s dann wohl mit meinem guten Tag.
Er sah überrascht aus. »Magst du keinen Schnee?«
»Nein. Schnee bedeutet, es ist zu kalt für Regen.« Logisch. »Außerdem dachte ich, es schneit in Flocken – jede einzigartig und so. Die hier sehen aus wie die Enden von Wattestäbchen.«
»Sag bloß, du hast noch nie Schnee fallen sehen«, sagte er ungläubig.
»Doch, na klar« – ich machte eine Pause. »Im Fernsehen.«
Mike lachte. Im nächsten Augenblick traf ihn ein großer, matschiger, tropfender Schneeball am Hinterkopf. Wir drehten uns beide herum, um zu sehen, woher der gekommen war. Mein Verdacht fiel auf Eric, der gerade in die andere Richtung davonging, obwohl er denselben Weg hatte wie wir. Mike hatte offensichtlich den gleichen Gedanken; er hockte sich hin und begann weißen Matsch zusammenzukratzen.
»Wir sehen uns beim Essen, okay?«, sagte ich, ohne stehen zu bleiben. »Wenn Leute anfangen, nasses Zeug durch die Gegend zu werfen, weiß ich, es ist Zeit zu verschwinden.«
Er nickte nur; seine ganze Aufmerksamkeit galt Eric, der sich unauffällig aus dem Staub zu machen versuchte.
Den ganzen Vormittag war der Schnee das einzige Thema; offensichtlich war es der erste in diesem Jahr. Ich sagte dazu nichts. Schnee war vielleicht trockener als Regen, aber nur, bis er einem in den Socken schmolz.
In erhöhter Alarmbereitschaft lief ich nach Spanisch mit Jessica zur Cafeteria. Von überall kamen die Bälle geflogen. Ich hielt einen Ordner in den Händen, um ihn im Fall der Fälle als Schutzschild zu benutzen. Jessica fand das irre komisch, aber irgendwas in meinem Gesichtsausdruck hielt sie davon ab, selbst einen Schneeball nach mir zu werfen.
An der Tür holte uns Mike ein, dessen stachlige Frisur vom Schnee ganz aufgeweicht war. Als wir uns an der Essensausgabe anstellten, unterhielten sich die beiden aufgekratzt über die Schneeballschlacht. Ich warf aus reiner Gewohnheit einen Blick zum Tisch in der Ecke. Und blieb wie vom Schlag getroffen stehen. Dort saßen fünf Personen.
Jessica zog mich am Arm.
»Hallo? Bella? Was nimmst du?«
Ich schaute zu Boden, meine Ohren glühten. Ich habe ihm nichts getan, sagte ich mir. Es gibt keinen Grund, sich schlecht zu fühlen.
»Was ist denn mit Bella?«, fragte Mike Jessica.
»Gar nichts«, erwiderte ich. »Ich nehme nur was zu trinken.« Ich schloss die Lücke zum Ende der Schlange.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte Jessica.
»Ehrlich gesagt, mir ist ein bisschen schlecht«, sagte ich, ohne aufzuschauen.
Ich wartete, bis sie ihr Essen geholt hatten, dann folgte ich ihnen mit gesenktem Blick zum Tisch.
Langsam nippte ich an meinem Wasser, in meinem Magen rumorte es. Mike war übermäßig besorgt und erkundigte sich mehrmals nach meinem Befinden. Ich sagte zwar, dass alles okay sei, überlegte aber ernsthaft, ob ich die Vorlage annehmen und für eine Stunde im Zimmer der Krankenschwester verschwinden sollte.
Lächerlich. Es gab keinen Grund davonzulaufen!
Ich beschloss, einen Blick zum Familientisch der Cullens zu werfen. Sollte er mich mit demselben wütenden Blick wie letzte Woche ansehen, dann würde ich – feige, wie ich war – die Biostunde schwänzen.
Vorsichtig, mit gesenktem Kopf, blinzelte ich in ihre Richtung. Keiner der fünf schaute zu uns rüber. Ich hob meinen Kopf ein wenig.
Sie lachten. Die Haare von Edward, Jasper und Emmett waren ganz von schmelzendem Schnee durchnässt. Alice und Rosalie lehnten sich weit weg, als Emmett seine triefenden Locken in ihre Richtung schüttelte. Genau wie alle anderen genossen sie den Wintertag – nur dass sie im Gegensatz zu uns anderen dabei wie Figuren aus einem Film aussahen.
Und noch etwas war anders als in der vorigen Woche, nicht nur ihr Lachen und ihre Ausgelassenheit; ich konnte aber nicht sagen, was es war. Edward musterte ich mit der größten Aufmerksamkeit, und es kam mir vor, als wäre seine Haut weniger blass – vielleicht nur wegen der Schneeballschlacht – und die Ringe unter seinen Augen nicht mehr so auffällig. Aber das war noch nicht alles. Doch sosehr ich ihn anstarrte – ich kam nicht drauf.